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der KZ-Gedenkstätte Mauthausen und Oral History der Überlebenden |
sichtlich einer «Vergangenheit» für relevant erachtet, entziffert und gelesen werden,
werden sie zu Belegen für bestimmte historische «Fakten». Hier setzte auch der junge
Zweig der zeitgeschichtlichen Archäologie an, die in den letzten Jahren zu einem gro-
ßen Sprung in der Forschung zur Geschichte des KZ Mauthausen führte.23 Es sind
erst die geschichtswissenschaftlichen Perspektivierungen, Fragestellungen und Sicht-
weisen der jeweiligen (wissenschaftlichen) Betrachter und Betrachterinnen, die die
«Überreste» des Vergangenen zu Quellen unseres Wissens über Vergangenes machen.
Aus diesem unüberwindlichen Aufeinander-bezogen-Sein von Quelle und historischer
Fragestellung ergab sich ein nur pragmatisch lösbares Grundproblem des hier vor-
gestellten Projektes, nämlich dass jede bloße Datensammlung, eine mit Oral History
betriebene Quellenproduktion und sonstwie erfolgende allgemeine Quellendokumen-
tation immer unspezifisch bleiben muss ; sie kann künftige Forschungsfragestellungen
nie direkt bedienen – ein Problem, mit dem es allerdings Historiker und Historike-
rinnen generell immer und Sozialwissenschafter und -wissenschafterinnen oft zu tun
haben und das sie meist auch mit ihren Methoden zu lösen wissen.24
«Überreste» und historische Originalbauten in ehemaligen KZ bedürfen immer auch
der Kontextualisierung bzw. Kommentierung, was schon dadurch erfolgt, dass sie nicht
nur im jeweiligen kollektiven Erinnerungsbestand verortet, sondern auch sichtbar
– wört-
lich genommen – «beschriftet», als Gedenkstätten und «Erinnerungszeichen» gepflegt
und erhalten werden. Andernfalls werden sie «übersehen» und – direkt – vom Gras über-
wachsen oder vom «Zahn der Zeit» zerstört. Aber nicht nur materielle «Überreste», die
«kalten Steine» und vermodernden (oder morschen) Hölzer, müssen – auch auf Kosten
der polyvalenten «Authentizität» des metaphorischen Schiffs des Theseus25 – erhalten
werden, sondern auch und besonders die ganz subjektiven Darstellungen von überleben-
den Häftlingen der Nachwelt weitergegeben werden. Ihre Berichte, Erzählungen und Er-
läuterungen, aber auch ihre Gedenkreden, künstlerischen Formen der Verarbeitung und
der Kommunikation an die später Geborenen sind von größter Bedeutung für ein vertief-
tes Verständnis dieser in Österreich, in Europa und darüber hinaus «nicht vergehenden
Vergangenheit». Dies ist die oben angesprochene andere Seite der Medaille der veränder-
ten Geschichtswahrnehmung, in der nicht nur die materielle Kultur erhaltens- und schät-
zenswert wird, sondern auch das «nicht-materielle» kulturelle Erbe der Überlebenden.
23 Claudia Theune-Vogt : Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2014 (Archäologie in
Deutschland, Sonderheft 6/2014). Vgl. den Beitrag von Theune-Vogt/Melanie Dejnega in Band 4 dieser
Publikation.
24 Gerhard Botz : Methoden- und Theorieprobleme der historischen Widerstandsforschung, in : Helmut
Konrad/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Arbeiterbewegung – Faschismus – Nationalbewusstsein. Fest-
schrift zum 20jährigen Bestand des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und zum
60. Geburtstag von Herbert Steiner, Wien et al. 1983 (Veröffentlichung des Ludwig Boltzmann Instituts
für Geschichte der Arbeiterbewegung), S. 138–152, hier 141 ff.
25 Jay F. Rosenberg : Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger, Frankfurt a. M. 62009 [1978], S. 55–77.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen