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Mauthausen Survivors Documentation Project (2002/03) |
deutschsprachigen Häftlinge insgesamt zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung schon älter
waren als die anderen national definierten Häftlinge und daher meist schon verstorben
waren.36 Der zuständige Regionalleiter, Alexander von Plato, betonte sogar, dass Über-
lebende, die im KZ als Juden kategorisiert worden waren, in Nachkriegsdeutschland
Mimikry betrieben haben, ja betreiben mussten, um nicht als Juden erkannt zu wer-
den. Anstelle von 60
Überlebenden aus Deutschland konnten daher nur 18
Interviews
mit (ehemals) deutschen Häftlingen durchgeführt werden. Dieselben Schwierigkeiten
tauchten auch für Österreich auf ; hier konnte die angestrebte Sample-Quote dennoch
annähernd erreicht werden.37
In anderen Ländern war es wiederum umgekehrt. In den Regionen Russland, Weiß-
russland und Ukraine, in den USA und Kanada sowie in Polen und Ungarn erklärten
sich, wie Irina Scherbakowa und Piotr Filipkowski berichteten, weitaus mehr Überle-
bende zu einem Interview bereit, als im Projekt ursprünglich vorgesehen war. Da es
uns jedoch nicht zumutbar erschien, zum Teil sehr betagte Überlebende nur «vorsorg-
lich» um ein Interview zu bitten, planten wir in enger Zusammenarbeit mit Scherba-
kowa und Memorial Moskau Fortsetzungsprojekte. So konnten in Russland, Weißruss-
land und der Ukraine 17 Überlebende zusätzlich interviewt werden.
Nicht zuletzt scheint für das gesteigerte Interesse von Mauthausen-Überlebenden
aus Osteuropa auch verantwortlich zu sein, dass die deutsche Bundesstiftung «Erinne-
rung, Verantwortung und Zukunft» im Jahr 2000 ein Zwangsarbeiter-Entschädigungs-
Projekt eingerichtet hatte, das unter ehemaligen Zwangsarbeitern und -arbeiterinnen
in Osteuropa recht bekannt wurde.38 Außerdem war ab 2000 auch in Österreich ein
(großzügiger als das deutsche ausgelegtes) Entschädigungsprojekt für Zwangsarbeiter
durch den Fonds für Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit (Versöhnungsfonds)
angelaufen, das nicht nur vom NS-Regime erzwungene Zwangsarbeit, sondern auch
sogenannte «Sklavenarbeit» in auf österreichischem Gebiet gelegenen Konzentrati-
onslagern, vor allem im KZ-Komplex Mauthausen, durch Geldleistungen (an insge-
samt über 132.000 Personen) «entschädigte».39 Das erzeugte geradezu eine Art Sog,
dass sich ehemalige Mauthausen-Häftlinge vermehrt interviewen lassen wollten, die
in den kommunistischen Ländern Ost- und Ostmitteleuropas – ausgenommen «poli-
tische» Häftlinge – nicht öffentlich als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt und
wahrgenommen worden waren. Insgesamt entstand von Anfang an ein wechselseitiger
intellektueller Austausch zwischen dem Leiter des später gestarteten Oral- und Video-
36 Maršálek, Geschichte, S. 159.
37 Siehe dazu den Beitrag von Berger/Prenninger in diesem Band.
38 Constantin Goschler et al. (Hg.) : Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhun-
derts. Die Stiftung «Erinnerung, Verantwortung und Zukunft» und ihre Partnerorganisationen, 4 Bde.,
Göttingen 2012.
39 Hubert Feichtlbauer (Hg.) : Zwangsarbeit in Österreich 1938–1945. Fonds für Versöhnung, Frieden und
Zusammenarbeit. Späte Anerkennung, Geschichte, Schicksale, Wien 2005.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen