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72 | Gerhard Botz, Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr
fragung im Vordergrund, wie sie von Alexander von Plato im Handbuch ausgeführt
wurde.46
In der ersten Phase sollte der zu befragenden Person am Beginn des Interviews aus-
reichend Zeit für das Erzählen ihrer Lebensgeschichte eingeräumt werden. Die sehr
allgemein gehaltene Einleitung lautete : «Bitte erzählen Sie mir Ihre Lebensgeschichte.»
Wir machten die Erfahrung, dass viele Interviewte mit diesem allgemeinen lebensge-
schichtlichen Einstieg gut zurechtkamen, obwohl manche Interviewer und Interview-
erinnen gegen eine solche methodische Vorgangsweise Bedenken gehabt hatten.47 Es
scheint in Europa, wie schon erwähnt, nach nationalen Wissenschaftstraditionen und
wissenschaftlichen «Schulen» einflussreicher Oral Historians gewisse Unterschiede in
den jeweils bevorzugten bzw. akzeptierten Oral-History-Methoden zu geben, sodass
eine Vereinheitlichung des Interviewens auch aus diesem Grund nur bedingt möglich
war. Die zentralen Koordinatorinnen, Amesberger und Halbmayr, verwiesen bald auch
auf die Bedeutung, welche die Bereitschaft der regionalen Teilprojektleiter und -leiterin-
nen und in der Folge jene von deren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, sich auf eine für
alle verbindliche Methode einzulassen, für den tatsächlichen Ablauf des Interviews hatte.
Daher sei hier die Diskussion zwischen den zentralen Koordinatorinnen und dem
Projektleiter offengelegt und die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob der von uns
gewählte lebensgeschichtliche Zugang nicht doch auch stark kultur- und sozialschich-
tenspezifisch unausgewogen war. Denn die Vorstellungen über Lebensgeschichte und
«Biografie» bzw. darüber, wie diese jeweils aufgebaut werden, schienen im Feld der
von uns durchgeführten Interviews beträchtlich zu variieren. Was etwa in «modern-
westlichen» kulturellen Zusammenhängen selbstverständlich war, war es nicht etwa in
«traditionell-orthodoxen». So konnten kretische Bauern, die als Unterstützer der Parti-
sanen verhaftet worden waren, mit unserer Eingangsfrage wenig anfangen, weil für sie
offensichtlich, wie der zuständige Regionalkoordinator, Gregorios Psallidas, bestätigte,
das erzählenswerte Leben erst mit dem Krieg und der Verhaftung begonnen und mit
der Rückkehr in ihr Dorf wieder geendet hatte. Ihre eigenen «Biografien» scheinen nur
ihr «öffentliches», «politisches» Leben als Männer, nicht ihr «Alltagsleben» integriert
zu haben. Eine ähnliche Selbstbeschränkung ist auch bei anderen (frühen) Verfolgten-
biografien, etwa zu Auschwitz, festzustellen.
Generell konnte beobachtet werden, dass bei bildungsfernen und «unteren» Schich-
ten «soziales Schweigen» eher die Norm denn die Ausnahme ist ; ihre Angehörigen
fühlen sich, wie Michael Pollak schreibt, «durch nichts berechtigt oder angeregt», von
ihrem Leben zu erzählen, das jedenfalls nicht durch das Gewicht ihrer Person eine
allgemeinere Bedeutung bekommt».48 Im Falle der Mauthausen-Überlebenden könnte
46 DÖW/IKF (Hg.), Manual, S. 16 ff. (siehe Anhang).
47 Siehe unten den Abschnitt «Interview- und Datenqualität».
48 Michael Pollak : Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZ-Überlebenden als Augenzeugen-
berichte und Identitätsarbeit, Wien 22016 [1988], S. 108.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen