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Interviewten des MSDP |
programms erneut in Statistiken und Tabellen fassen, groß geblieben und angesichts
des Trends zur «Personalisierung des Opfergedenkens» in den letzten zwei Jahrzehn-
ten sogar noch gestiegen.9 Im Mainstream der deutschsprachigen Soziologie wurden,
wie der Soziologe Andreas Kranebitter betont, «die KZ als moralische Tabu-Zone defi-
niert und nicht als potentielles Objekt sozialwissenschaftlicher Forschung».10 Der Vor-
wurf lautet : Die Opfer werden erneut von Menschen zu Nummern gemacht und ihrer
Subjektivität beraubt.11 «Liegt nicht schon in der Abstraktion des Menschen zur Ziffer,»
fragen Götz Aly und Karl-Heinz Roth, «ein fundamentaler Angriff auf seine Würde ?»12
Mit Bourdieu gesprochen, ist es im Forschungsprozess jedoch notwendig, «empirische
Individuen», die einzigartig und voneinander verschieden sind, von «epistemischen
Individuen» zu unterscheiden, das heißt von Forschungsobjekten, die durch genau be-
stimmte Eigenschaften und Variablen konstruiert werden.13 «Die Sprache der Statis-
tik ist eine Sprache maximaler Distanz zu ihren ‹Untersuchungseinheiten›», schreibt
Kranebitter, gleichwohl führen «die technische Logik und die Sprache quantitativer
Methoden […] kaum automatisch in nationalsozialistisches Gedankengut».14 Dass der
Einsatz quantitativer Methoden auch in der KZ-Forschung bei entsprechender Quel-
lenkritik von großem Nutzen sein kann, argumentiert Kranebitter auch in seinem Bei-
trag in diesem Band.
9 Programmatisch dazu Romani Rose : Den Opfern ein Gesicht und eine Geschichte geben. Die Notwen-
digkeit von Personalisierung beim Gedenken an die Holocaust-Opfer der Sinti und Roma, in : Petra Fank/
Stefan Hördler (Hg.), Der Nationalsozialismus im Spiegel des öffentlichen Gedächtnisses. Formen der
Aufarbeitung und des Gedenkens. Für Sigrid Jacobeit, Berlin 2005, S. 221–236. Vgl. Kristin-Susanne Hä-
selhoff/Christina Reinhold-Häbich : Die Erinnerung braucht ein Gesicht. «Frauenbilder» in Ravensbrück,
in : ebd., S. 247–261 ; Anita Farkas : Sag mir, wer die Toten sind ! Personalisierung des Opfergedenkens am
Beispiel der NS-Opfer von Peggau, Klagenfurt 2002 ; Ruth Federspiel : Individuelle Schicksale Verfolgter
in Massenquellen des nationalsozialistischen Deutschland, in : Rüdiger Hohls et
al. (Hg.), Europa und die
Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte. Festschrift für Hartmut Kaelble
zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2005, S. 336–341.
10 Andreas Kranebitter : Zahlen als Zeugen. Quantitative Analysen zur «Häftlingsgesellschaft» des KZ
Mauthausen-Gusen, Diplomarb. Univ. Wien 2012, S. 13.
11 Vgl. Ilse Henneberg (Hg.) : «Vom Namen zur Nummer». Einlieferungsritual in Konzentrationslager, Bre-
men 1996. Vgl. dazu auch die Begründungen für die Einrichtung des «Raums der Namen» in der KZ-
Gedenkstätte Mauthausen. Hannah Lessing schreibt z. B.: «Im Zentrum des Erinnerns steht allein das
ermordete Individuum, der einzelne Mensch […]», in : dies.: Geleitwort, in : Verein für Gedenken und
Geschichtsforschung in österreichischen KZ-Gedenkstätten (Hg.), Gedenkbuch für die Toten des KZ
Mauthausen. Bd. 1 : Kommentare und Biografien, Wien 2016, S. 8–9, hier 9 [im Weiteren zit. als : Gedenk-
buch Mauthausen]. Einer der Autoren dieses Beitrags erinnert sich an heftige Diskussionen im Rahmen
eines Projekts der Österreichischen Historikerkommission zur Frage, ob es nun darum gehe, erneut Ju-
den zu zählen.
12 Götz Aly/Karl Heinz Roth : Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im National-
sozialismus, Frankfurt a. M. 2005, S. 16.
13 Pierre Bourdieu : Homo academicus, Paris 2000 [1984], S. 34 ff.
14 Andreas Kranebitter : Zahlen als Zeugen. Soziologische Analysen zur Häftlingsgesellschaft des KZ Maut-
hausen, Wien 2014 (Mauthausen-Studien, 9), S. 10 f.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen