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88 | Heinrich Berger und Alexander Prenninger
Der vorliegende Beitrag untersucht die fĂĽr diese Publikation zentrale Quellenbasis,
die 859Â
Audio- und Videointerviews des Mauthausen Survivors Documentation Project
(MSDP) sowie die als immanenten Teil des Interviewprojekts angelegte MSDP-Daten-
bank, mit statistischen Methoden und möchte damit die Probleme und das Potenzial
eines solchen Zugangs zur Oral History aufzeigen.
Zu den Problemen einer quantitativen Auswertung eines Interviewsamples wie
im Falle des MSDP zählt zuvorderst die Frage nach der Repräsentativität.15 Von den
etwa 100.000 Ăśberlebenden des KZ Mauthausen war zum Zeitpunkt des Interview-
projekts nur mehr ein Bruchteil am Leben. Die Auswahl der Interviewten des MSDP
zielte zwar auf eine Repräsentation der verschiedenen politischen Gruppen, Nationen
und Altersgruppen, die der Verteilung der Gruppen im Lager möglichst nahe kommen
sollte. Zwei Gruppen, weibliche und jĂĽdische Ăśberlebende, waren aus geschichtspoli-
tischen Gründen absichtlich überrepräsentiert, da diese beiden Gruppen in der For-
schung zum KZ Mauthausen bis zu diesem Zeitpunkt noch deutlich unterrepräsentiert
waren.16 Andere Gruppen wie «kriminelle» oder «asoziale» Häftlinge konnten nicht
befragt werden. Jenseits der vorab festgelegten Quoten fĂĽr einzelne Gruppen beein-
flussten letztlich auch die jeweiligen Regionalkoordinatoren und -koordinatorinnen,
wer interviewt wurde. Die demografische Entwicklung der Ăśberlebenden, institutio-
nelle und politische Vorgaben, methodische Präferenzen der am Projekt Beteiligten,
Zufälligkeiten des «Schneeballprinzips» etc. bestimmten somit das Zustandekommen
des vorliegenden MSDP-Samples, das allerdings keine reine Zufallsstichprobe darstellt,
sondern aufgrund der Intentionen des MSDP-Projektteams eher als «strukturelle
Stichprobe» bezeichnet werden kann.17 Nach einer frühen Einschätzung dieses Teams
repräsentiert die Interviewsammlung des MSDP am ehesten die im Jahr 2000 nach
Schätzungen der Österreichischen Historikerkommission noch lebenden ca. 21.000
ehemaligen Häftlingen des Konzentrationslagers Mauthausen.18
Die Frage nach einer Grundgesamtheit ist jedoch sowohl für die Menge aller Häft-
linge des KZ Mauthausen wie auch bei anderen Interviewsammlungen nicht zu lösen :
15 Das Ideal numerischer Repräsentativität setzt ja «eine Grundgesamtheit als endliche Menge wohlabge-
grenzter und eindeutig auszählbarer Elemente» voraus. Alexander Mejstrik etÂ
al.: Berufsschädigungen in
der nationalsozialistischen Neuordnung der Arbeit. Vom österreichischen Berufsleben 1934 zum völki-
schen Schaffen 1938–1940, Wien/München 2004 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historiker-
kommission, 16), S. 16.
16 Vgl. Gerhard Botz et al.: Das «Mauthausen Survivors Documentation Project». 860 lebensgeschichtliche
Interviews mit Mauthausen-Überlebenden, in : BIOS 16.2 (2003), S. 279–306, hier 300 f.
17 Zum Einfluss dieser Faktoren auf Interviewsammlungen siehe Jan Taubitz : Holocaust Oral History und
das lange Ende der Zeitzeugenschaft, Göttingen 2016, S. 92, und Noah Shenker : Reframing Holocaust
Testimony, Bloomington, IN 2015 (The Modern Jewish Experience), S. 5.
18 Mark Spoerer : Wie viele der zwischen 1939 und 1945 auf heutigem österreichischen Territorium ein-
gesetzten Zwangsarbeiter leben noch im Jahre 2000 ?, in : Florian Freund et al., Zwangsarbeiter und
Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945, Wien/München 2004 (Veröf-
fentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, 26.1), S. 275–413, hier 351, Tab. 19.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen