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96 | Heinrich Berger und Alexander Prenninger
Marco freiwillig als Arbeiter in das deutsch besetzte Frankreich bzw. in das Deutsche
Reich gegangen waren. In den meisten Fällen des MSDP scheint es sich jedoch weniger
um bewusste Falschangaben als um Verwechslungen und Irrtümer zu handeln. Eine
Reihe von MSDP-Überlebenden behauptete etwa, in den KZ-Außenlagern von Hirten-
berg und St. Valentin gewesen zu sein. Tatsächlich existierten an diesen Orten neben
den KZ-Lagern auch andere Lager, und eine genaue Lektüre der Interviews, unterstützt
durch Archivrecherchen, ergab, dass die Interviewten in den meisten Fällen eben nicht
im Außenlager des KZ Mauthausen, sondern in einem der Zwangsarbeitslager bzw.
Arbeitserziehungslager gewesen waren.36
Es ist jedoch auch nicht auszuschließen, dass sich manche Überlebende in einen
Opferdiskurs einschreiben wollten, in dem KZ-Überlebende eine höhere Reputation
genießen als «einfache» Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen, die gerade in Osteuropa
viele Jahrzehnte dem Vorwurf der Kollaboration mit den Deutschen ausgesetzt wa-
ren.37 In manchen Fällen dürfte sich auch erst im Laufe des Interviews herausgestellt
haben, dass die Interviewten keine Überlebenden des KZ Mauthausen waren.38 Gerade
in den postsozialistischen Staaten gab es bis Anfang der 2000er Jahre nur sehr wenige
derartige Interviewprojekte, und daher haben die Interviewten gerne die Möglichkeit
ergriffen, bei dieser Gelegenheit ihre Geschichte zu erzählen, die ansonsten verloren
gegangen wäre.39 Auch aufgrund der Entschädigungszahlungen aus Deutschland und
Österreich entstand ein dermaßen großes Interesse von Opfern des NS-Regimes, ihre
Geschichten zu erzählen, dass die ursprünglichen Quoten des MSDP erhöht und etwa
in Russland und der Ukraine 90 zusätzliche Interviews durchgeführt wurden.
Soziale Zusammensetzung der MSDP-Überlebenden
Das Alter der Überlebenden
Ein entscheidender Faktor für die individuellen Überlebenschancen der in Mauthau-
sen Inhaftierten war ihr Alter. Nach Kranebitter lag das Durchschnittsalter aller Häft-
36 Die Schwierigkeit, zwischen Zwangsarbeitern und -arbeiterinnen, Arbeitserziehungshäftlingen und
KZ-Häftlingen zu unterscheiden, findet sich allerdings bereits in Quellen, die bald nach der Befreiung
entstanden sind. Vgl. Hörtner/Prenninger, Verstreute Quellen ; Stefan Wolfinger : Das KZ-Außenlager
St. Valentin, Wien 2009 (Mauthausen-Studien, 7), S. 36 f.
37 Ähnliche Tendenzen der Ab- und Ausgrenzung gab es durchaus auch in Westeuropa. So wurde den ehe-
maligen französischen Zwangsarbeitern gesetzlich verboten, sich als «Deportierte» zu bezeichnen ; der
Begriff blieb den KZ-Überlebenden vorbehalten. Vgl. François Cochet : Les Exclus de la Victoire. Histoire
des prisonniers de guerre, déportés et STO (1945–1985), Paris 1992.
38 Vgl. Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr : Weibliche Häftlinge im KZ Mauthausen und seinen Außen-
lagern, unveröff. Projektbericht, Wien 2010, S. 46, Fn. 2.
39 Unter den ungarischen Überlebenden des MSDP gibt es zum Beispiel eine Person, die in Auschwitz war,
aber nicht im Lagerkomplex von Mauthausen.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen