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Interviewten des MSDP |
Religion
Ein religiöses Bekenntnis und das Bewusstsein, zu einer Glaubensgemeinschaft zu ge-
hören, waren in der Zeit der Verfolgung für manche Überlebende eine Hilfe und Stütze,
um den Alltag des Lagerlebens zu bewältigen und möglicherweise sogar mit Glaubens-
genossen und -genossinnen zusammen eine Solidargemeinschaft zu bilden. Gleich-
zeitig war die Religionsausübung im Lager für Strenggläubige – ob Zeugen Jehovas,
katholische Priester oder orthodoxe Juden und Jüdinnen – meist nur im Geheimen
und unter großen Risiken möglich. Zu diesen organisatorischen Hindernissen an der
Religionsausübung konnte auch noch eine Erschütterung des Glaubens angesichts des
Terrors der SS und des Grauens des Massenmordes kommen.60
Die Angaben in der MSDP-Datenbank zur religiösen Praxis der Überlebenden vor,
während und nach der Verfolgung ermöglichen einen ersten Einblick in die indivi-
duellen Veränderungen im Zuge der KZ-Erfahrungen. Etwas weniger als zwei Drittel
des MSDP-Samples gaben Auskunft über ihr religiöses Bekenntnis vor der Verfolgung ;
knapp 50 Prozent gaben auch an, ihren Glauben praktiziert zu haben. Die größte
Gruppe stellten dabei die Katholiken mit 28,7 Prozent, gefolgt von Juden und Jüdin-
nen (inklusive der Orthodoxen) mit 23,2 Prozent. Von den Katholiken gaben etwa
80 Prozent an, ihren Glauben praktiziert zu haben, von den Juden 68 Prozent ; unter
den orthodoxen Juden praktizierten mindestens 90 Prozent ihren Glauben.
Wie veränderten sich die Angaben zum Religionsbekenntnis für die Zeit der Verfol-
gung ? Bei den meisten religiösen Gruppen finden wir sowohl in den absoluten Zahlen
wie auch bei der Frage, ob der Glaube praktiziert wurde, einen Rückgang. Besonders
stark ist der Rückgang in der Frage der Praktizierung des Glaubens bei den Russisch-
Orthodoxen (von 80 auf unter 20 Prozent). Bei den Jüdisch-Orthodoxen ist dagegen
in absoluten Zahlen ein Rückgang von zwei Drittel zu beobachten ; das verbliebene
Drittel gab jedoch vollzählig an, den Glauben auch während der Verfolgung praktiziert
zu haben. Bei den Zeugen Jehovas im MSDP hat sich die Zahl derer, die den Glauben
praktizierten, während der Verfolgung von vier auf acht verdoppelt.
Die Frage, welche Rolle die Religion in der Zeit nach der Verfolgung für die Über-
lebenden gespielt hat, ist nicht eindeutig zu beantworten. Zum einen sind grundsätzli-
che Säkularisationsprozesse zu berücksichtigen. Laut Angaben im MSDP ist die größte
Religionsgruppe, jene, die sich zur römisch-katholischen Kirche bekannte, zwischen
der Zeit vor und nach der Verfolgung um 2,3 Prozent leicht gesunken. Zum anderen
ist die Zahl derer, die sich zur jüdischen Religion bekannten, um etwa zehn Prozent
gestiegen. Besonders stark zurückgegangen ist die kleine Gruppe der sich als jüdisch-
60 Vgl. Nikolaus Wachsmann : KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Mün-
chen 2015, S. 581–583 ; Thomas Rahe : Die Bedeutung von Religion und Religiosität in den nationalsozia-
listischen Konzentrationslagern, in : Herbert et
al. (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager,
Bd. 2, S. 1006–1022.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen