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155«Geschichtsforschung
mit dem Taschenrechner» ? |
tont.55) Das entsprechende Modell erlaubt die Schätzung der Größe des Einflusses der
einzelnen Faktoren.
Ergebnisse und Perspektiven
Die Berechnungen ergeben, dass der Effekt des Einlieferungsdatums (Häftlingsnum-
mer und Inhaftierungsdauer) und damit sozusagen die «Seniorität» im Konzentrati-
onslager den Einfluss der anderen Faktoren deutlich übersteigt, wobei die soziodemo-
grafische Variable Alter mehr zur Erklärung beiträgt als die SS-Kategorien Nationalität
und Haftkategorie. Dieses Ergebnis bestätigt die oben erwähnten Beobachtungen einer
«Blitzableiter»-Funktion neu eingelieferter Deportierter für «alte» Häftlinge. Erwin
Gostner beobachtete an sich selbst im KZ Mauthausen eine Statusveränderung, als die
ersten Polen ins KZ Mauthausen deportiert wurden :
«In den Augen der SS.-Blockführer bin ich jetzt ein alter Lagerhase. Ich bin verhältnismäßig
sicher vor ihnen. Wenn ich nur nicht auffalle ! Ich habe jetzt einen feinen Druckposten in der
Küche, wo ich für dauernd beschäftigt bin.»56
Benedikt Kautsky formulierte dieses Strukturprinzip relativ klar :
«Es war häufig festzustellen, daß die Konzentrierung der Energie der SS auf bestimmte Grup-
pen von Häftlingen für die Allgemeinheit eher eine Erleichterung bedeutete ; so waren meis-
tens die Juden die Blitzableiter. Ein Lager ohne oder mit nur wenig Juden, wie es zum Beispiel
Mauthausen wenigstens zeitweilig gewesen sein muß – dort wurden alle Juden binnen kür-
zester Frist zu Tode gequält –, bedeutete für die ‹Arier› eine wesentliche Verschlechterung
ihrer Lage, während zum Beispiel in Auschwitz, wo nach Abtransport der Polen und Russen
ins Innere Deutschlands mindestens 90 Prozent der Belegschaft Juden waren, der Arier, na-
mentlich der ‹Reichsdeutsche›, wie eine Art Halbgott behandelt wurde.»57
55 «Den Alten des Lagers sagt die Nummer alles : die Zeit des Lagereintritts, den Transport, mit dem man
gekommen ist, und demnach auch die Nationalität. Jeder wird die Nummern von 30000 bis 80000 mit
Achtung behandeln : Nicht mehr als einige hundert sind es, die Überlebenden der polnischen Ghettos
[…]. Und was die hohen Nummern angeht, so hängt ihnen etwas Lächerliches an, wie im normalen
Leben den Begriffen ‹Stift› oder ‹Rekrut› : Die typische hohe Nummer ist ein dickbäuchiges, willfähriges
und dümmliches Individuum, dem du auf die Nase binden kannst, dass im Krankenbau Lederschuhe
für Leute mit empfindlichen Füßen ausgegeben werden, und das du dazu überreden kannst, rasch hin-
zulaufen und dir inzwischen seinen Suppennapf ‹in Verwahrung› zu geben […].» Primo Levi : Ist das ein
Mensch ? Ein autobiographischer Bericht, in : ders., Ist das ein Mensch ? Die Atempause, München 21989,
S. 17–175, hier 36.
56 Erwin Gostner : 1000 Tage im KZ. Ein Erlebnisbericht aus den Konzentrationslagern Dachau, Mauthau-
sen und Gusen, Innsbruck 1945, S. 150 f.
57 Kautsky, Teufel und Verdammte, S. 61.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen