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156 | Andreas Kranebitter
Die kaum zu überschätzende Bedeutung der eigenen Statusveränderung mit Einlie-
ferung neuer Gruppen wird vor allem aus den seltenen Zeitdokumenten ersichtlich,
die im Lager selbst verfasst wurden – wie dem Tagebuch des Friseurs Ernst Hallen,
der am 25. Jänner 1940 von Sachsenhausen nach Mauthausen überstellt wurde und
dort als AZR-Häftling («Arbeitszwang Reich»), also «Asozialer», registriert wurde.58
Notierte Hallen zwischen Jänner und Mai 1940 oft lapidar vor allem Hunger und Tod
der mit ihm nach Mauthausen transportierten Deportierten – etwa am 9. März 1940 :
«Nichts besonderes, Tote ist hier nichts neues, die gibt es täglich»59Â
– und seine eigenen
schwindenden KräfteÂ
– 13.Â
März 1940 : «heute sind 7Â
Tote ich musste Schlitten mit Tote
ziehen. Ich bin fertig – u[nd] habe keinen Hunger»60 –, so stabilisiert sich sein Status
zunächst nach drei Monaten mit der Ernennung zum Blockfriseur am 20. April 1940
und ändert sich geradezu schlagartig zum Besseren mit der Nachricht der Ankunft
eines großen Transports polnischer Deportierter aus Auschwitz am 10. Juni 1940. Die
betreffenden Passagen seien hier ausfĂĽhrlicher zitiert :
«[4. Juni 1940 :] Killermann61 hat mich in der SS Baracke erwischt beim Brot betteln. Habe
viel Kinnhaken von Ihm erwischt. Ich bin ein Trottel !»
«[8. Mai 1940 :] Diese Woche ging alles im Laufschritt. Es war Gewitterstimmung bei der F.
Morgen sollen 1700 Zugänge kommen von Auschwitz ?»
«[10.Â
Mai 1940 :] Heute 1700 Zugänge alles Polen sollten gestern schon kommen. Seit gestern
bin ich Bl[ock].schr[eiber im Block]. 8 u. Kantinenkäufer. Nun habe ich alles nur eine Frau
brauche ich noch Illusion ! ! ! […]»
58 Tagebuch des Zeugen Ernst Hallen aus Gusen I, 1940/45, Lichtbilder 4 St R 518/69, LG Heidelberg,
3A Ks 27/57, Landesarchiv Baden-Württemberg – Generallandesarchiv Karlsruhe. Das Tagebuch war
BeweisstĂĽck im Verfahren gegen den SS-BlockfĂĽhrer Hugo Stahl, der wegen Beihilfe zum Mord vor
dem LG Heidelberg 1957 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Vgl. Christian Rabl : Mauthausen
vor Gericht. Nachkriegsprozesse im internationalen Vergleich, Wien 2019 (Mauthausen-Studien, 13),
S. 213 f. Hallens auf ĂĽber 100Â Seiten kalendarisch gefĂĽhrtes Tagebuch soll hier schon deshalb ausfĂĽhr-
licher zitiert werden, weil es eines der zwar selten und schwer zu findenden, aber doch existierenden
Ego-Dokumente eines als «asozial» stigmatisierten Deportierten ist. Das Tagebuch beginnt mit Kalen-
dereinträgen, die im Wesentlichen Charakterisierungen von SS-Angehörigen und Kapos darstellen, und
sprengt buchstäblich im weiteren Verlauf sukzessive den Rahmen des Kalendariums, indem es sich zu
ausführlichen Darstellungen auswächst. Hallen betitelte es mit «Mein Kampf ! AZR Nr. 2189 E.H. […]
Tatsachenberichte ! Lagergeschehnisse Gusen/Oesterreich von mir selbst ! ! ! E.H.» (Tagebuch des Zeu-
gen Ernst Hallen, ebd.).
59 Ebd.
60 Ebd.
61 Gemeint ist der SS-Angehörige Michael Killermann, Rapportführer im KZ Gusen, der 1956 in Untersu-
chungshaft starb. Vgl. Rabl, Mauthausen vor Gericht, S. 242.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen