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171Besatzer,
Besetzte und Verfolgung in Hitlers Europa |
Tötens herhalten. Denkbar waren solche Behauptungen rationalen Handelns aber nur
vor dem Hintergrund eines enthemmten Rassismus. Im Grunde handelte es sich bei
diesen Argumentationen vor allem um eine Selbstbespiegelung der Täter. Freilich ist
nicht zu bestreiten, dass bestimmte äußere Phänomene wie die plötzliche Verknap-
pung von Nahrung die Besatzungsfunktionäre veranlassten, bestimmte Massenmorde
in die Wege zu leiten.
Seit Ende 1941 begannen ökonomische Faktoren eine immer größere Rolle in der
Verfolgungs- und Vernichtungspolitik zu spielen. Auslöser hierfür war zunächst die
Arbeitskräftekrise im «Reich», bedingt durch immer neue Rekrutierungen deutscher
Männer für den Krieg gegen die Sowjetunion. Nun begann man allmählich, dem Hun-
gersterben der sowjetischen Kriegsgefangenen etwas gegenzusteuern und die Überle-
benden sukzessive zur Arbeit ins «Reich» zu bringen. Auch die Arbeitskraft der KZ-
Häftlinge trat nun stärker ins Kalkül ; solche, die als «arbeitsfähig» eingestuft wurden,
sollten besser behandelt, die übrigen ermordet werden. Beim Mord an den Juden
spielte dieses Kalkül zunächst keine Rolle, erst im Herbst 1942 bahnten sich Konflikte
um die jüdischen Arbeiter bei der Wehrmacht an. Dennoch wurden absichtsvoll etwa
90
Prozent der Juden in ganz Europa bis Mitte 1943 sofort ermordet, weil man lediglich
zehn Prozent als «arbeitsfähig» erachtete. Die SS löste im Herbst 1943 auch die übrigen
Zwangsarbeitslager für Juden auf. Eine zeitweilige Überlebenschance hatten Juden nur
dort, wo kriegswichtige Industrie angesiedelt war, beispielsweise im Raum Radom in
Zentralpolen. Dennoch wurden auch diese bis Kriegsende ermordet.
Besatzungsgesellschaften und Gewalt
Die deutsche Besatzungspolitik spielte sich nicht im luftleeren Raum ab, sondern in-
mitten der einheimischen Bevölkerung ; selbst die Gewalt wurde in Osteuropa oft vor
aller Augen praktiziert. Nun sind jedoch verallgemeinernde Aussagen über die etwa
200 bis 220 Millionen Menschen, die in ganz Europa unter Besatzung gerieten, nicht
so einfach zu treffen.12 Zunächst kann man davon ausgehen, dass die Gesellschaften
vor 1939 oft von tiefen politischen und teilweise auch kulturellen Gräben durchzogen
waren und sich im Gefolge der Weltwirtschaftskrise deutlich radikalisiert hatten. In
der Sowjetunion war die Gesellschaft durch die stalinistische Herrschaft weitgehend
paralysiert worden. Ein Teil der einheimischen Eliten war vor der deutschen Besetzung
geflohen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass ein beträchtlicher Teil der einheimischen
Männer zur Roten Armee eingezogen worden war, entweder in Kriegsgefangenschaft
12 Exemplarisch : Philippe Burrin : France à l’heure allemande 1940–1944, Paris 1995 (L’univers historique)
(amerik. Ausg. u.
d.
T. France under the Germans. Collaboration and Compromise, New York 1996) ; Ka-
rel C. Berkhoff : Harvest of Despair. Life and Death in Ukraine under Nazi Rule, Cambridge, MA/London
2004.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen