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172 | Dieter Pohl
saß oder zur Zwangsarbeit ins «Reich» rekrutiert wurde. Somit hatte sich die demogra-
fische Struktur tendenziell geändert, Kinder, Frauen und ältere Personen stellten nun
den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung dar.
Deren oberstes Ziel hieß vor allem : Überleben, ohne Schaden zu nehmen. Und das
hieß insbesondere bis zur Jahreswende 1942/43, dass man auf unabsehbare Zeit unter
deutscher Herrschaft leben würde und sich somit in irgendeiner Form mit den neuen
Verhältnissen zu arrangieren hatte. Dies fiel den Einwohnern in West- und Nordeuropa
leichter, da sie insgesamt weniger an der Ausbeutung litten als jene in Osteuropa und
da sie nicht permanent mit der Gewalt oder ihrer Androhung leben mussten. Freilich
änderte sich dies unter Umständen je nach Region und Zeitabschnitt.
Am meisten arrangierten sich solche Personen mit den Verhältnissen, die in deut-
schen Diensten standen, kurz Kollaborateure genannt. Obwohl der Begriff der Kolla-
boration moralisch stark negativ konnotiert ist und nach 1944 politisch genutzt wurde,
konnte er dennoch bis heute nicht durch einen angemesseneren Terminus ersetzt wer-
den.13 Kollaboration konnte sich auf höchster politischer Ebene abspielen, wie bei der
Zusammenarbeit der Achsenmächte Italien, Rumänien und Ungarn mit dem «Reich»,
bei der Kooperation mit abhängigen neuen Staaten wie der Slowakei und Kroatien oder
aber bei Auftragsverwaltungen wie in Vichy-Frankreich, in Dänemark, in Griechen-
land oder sogar im Protektorat Böhmen und Mähren. Im Alltag dominierte jedoch
die Kollaboration in der einheimischen Regional- und Kommunalverwaltung,14 in der
einheimischen Polizei, innerhalb der deutschen Streitkräfte und in Infrastrukturdiens-
ten oder – außerhalb Osteuropas – auch in der Industrie.
Am ehesten waren die einheimischen Polizisten, in Osteuropa meist als Hilfspo-
lizisten bezeichnet, mit den Verfolgungen und Massenmorden konfrontiert. Dem
deutschen SS- und Polizeiapparat stand ein Vielfaches an einheimischem Personal
zur Verfügung, das nahezu in allen Feldern der Verfolgung eingesetzt wurde, bei Raz-
zien, Verhaftungsaktionen, Gefangenenkonvois, Bewachung in Gefängnissen und
Lagern und schließlich unmittelbar bei den Massenerschießungen, vor allem in den
besetzten sowjetischen Gebieten. Mit Ausnahme der Führungskader handelte es sich
bei diesen Polizisten meist nicht um ausgesuchte Rechtsextremisten der Vorkriegszeit,
nicht selten wurden Polizeibeamte aus der Zeit vor 1939 übernommen. Zwar lässt sich
aufgrund des fragmentierten Quellen- und Forschungsstandes noch keine generelle
Aussage treffen, doch scheint es, dass es kaum Widerstände unter den einheimischen
Polizisten gegen die Verfolgungsaktionen gegeben hat. Erst nachdem sich das deut-
sche Kriegsglück gewendet hatte, desertierten immer mehr dieser Polizisten ; sie gin-
13 Joachim Tauber (Hg.) : «Kollaboration» in Nordosteuropa. Erscheinungsformen und Deutungen im
20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006 (Veröffentlichungen des Nordostinstituts, 1).
14 Besonders : Peter Romijn : Burgemeesters in oorlogstijd. Besturen tijdens de Duitse bezetting [Bürger-
meister in Kriegszeiten. Verwaltungen unter der deutschen Besatzung], Amsterdam 2006 ; Nico Wouters :
Mayoral Collaboration under Nazi Occupation in Belgium, the Netherlands and France, 1938-46, Cham
2016.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen