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196 | Karin Orth
Von Sommer bis Ende des Jahres 1941 waren rund 3,35 Millionen sowjetische
Kriegsgefangene in den Machtbereich der Deutschen geraten. Das Kriegsgefangenen-
wesen im Bereich der Zivilverwaltung unterstand dem Allgemeinen Wehrmachtsamt
im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), im Bereich der Militärverwaltung dem
Generalquartiermeister des Heeres. Die sowjetischen Soldaten wurden nach ihrer Ge-
fangennahme in provisorische Lager gepfercht und durchliefen von Osten nach Wes-
ten folgende Stationen : provisorische Sammellager, Armeegefangenensammelstellen,
Durchgangslager (Dulag) und Stammlager (Stalag).32 Charakteristisch für alle Lager-
formen, insbesondere jedoch für die Durchgangs- und Sammellager war, dass hier oft
Zehntausende Menschen gefangen gehalten wurden, ohne dass ein Minimum an In-
frastruktur zur Verfügung stand : Es fehlte an Gebäuden und sanitären Anlagen, vor
allem jedoch an Lebensmitteln. Binnen kurzer Zeit setzte das Massensterben ein. Der
Anstieg der Todesraten erfolgte in mehreren Schüben : erstmals noch im Sommer 1941,
dann im September und schließlich in den Monaten Oktober, November und Dezem-
ber. In diesen drei Monaten starben jeweils rund 300.000 bis 500.000 Männer. In den
ersten Monaten des Jahres 1942 sank die Zahl, blieb aber auf einem nach wie vor ver-
heerend hohen Niveau : Im Jänner 1942 starben rund 155.000, im Februar 80.000 und
im März nochmals 85.000 sowjetische Kriegsgefangene.33 Christian Gerlach bewertet
den extrem hohen Anstieg der Sterberate seit Oktober 1941 als Ergebnis des Schritts
von «einer allgemein nachrangigen Versorgung zur gezielten, selektiven Ermordung
der Mehrzahl der Gefangenen durch Hunger».34
Ein (vergleichsweise kleiner) Teil der sowjetischen Kriegsgefangenen starb durch
Maßnahmen der SS.35 Opfer der SS wurden die als «politische Kommissare»» eingestuf-
ten sowjetischen Kriegsgefangenen sowie diejenigen, die in die sogenannten «Kriegs-
gefangenenlager der Waffen-SS» überstellt wurden. Bereits vor dem deutschen Überfall
auf die Sowjetunion hatte die NS-Führung beschlossen, alle bolschewistischen «poli-
tischen Führer» sofort nach Gefangennahme zu ermorden. Grundlage hierfür war der
sogenannte Kommissarbefehl vom 6.
Juni 1941. Der «Einsatzbefehl Nr. 8» vom 17.
Juli
1941 legte fest, wie die «politischen Kommissare» aus den Kriegsgefangenenlagern der
Wehrmacht «auszusondern» seien, und hob folgende Personengruppen hervor : «alle
bedeutenden Funktionäre des Staates und der Partei, insbesondere Berufsrevolutio-
näre, die Funktionäre der Komintern, alle maßgebenden Parteifunktionäre der KPdSU,
und ihrer Nebenorganisationen in den Zentralkomitees, den Gau- und Gebietskomi-
tees, alle Volkskommissare und ihre Stellvertreter, alle ehemaligen Polit-Kommissare
32 Hinzu kamen die im Deutschen Reich gelegenen Kriegsgefangenenlager, die sogenannten «Russenlager» ;
zur Planung und Einrichtung dieser Lager vgl. Otto, Wehrmacht, S. 33–46.
33 Gerlach, Ausweitung, S. 42.
34 Ebd., S. 36.
35 Zum Folgenden Orth, System, S. 122–131, sowie die Beiträge in Johannes Ibel (Hg.) : Einvernehmliche
Zusammenarbeit ? Wehrmacht, Gestapo, SS und sowjetische Kriegsgefangene, hg. i. A. der KZ-Gedenk-
stätte Flossenbürg, Berlin 2008.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen