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202 | Karin Orth
auch Frauen, die vor allem in der Textil-, später auch in der Rüstungsindustrie arbeite-
ten, wurden zunächst in ein Durchgangslager und von dort aus in die «Schmelt-Lager»
gebracht. Bislang konnten 177 derartige Lager nachgewiesen werden, die sich räum-
lich über Nieder- und Oberschlesien und Teile des Reichsgaus Sudetenland erstreck-
ten. Ab November 1941 erfolgten zunächst sporadisch, dann regelmäßig Selektionen,
bei denen die als arbeitsunfähig deklarierten Häftlinge ausgesondert, nach Auschwitz
gebracht und getötet wurden. Die Gesamtzahl der Insassen der «Schmelt-Lager» ist
unbekannt, doch nennt ein zeitgenössischer Bericht für Anfang 1943 die Zahl von über
50.000 jüdischen Zwangsarbeitskräften. Als im Sommer 1943 die Ghettos in Ostober-
schlesien aufgelöst wurden und die Deportationen nach Auschwitz begannen, löste
die SS auch viele «Schmelt-Lager» auf. Man brachte die Gefangenen entweder in KZ-
Außenlager, in noch bestehende andere «Schmelt-Lager» (die später als Außenlager
den KZ Auschwitz oder Groß-Rosen unterstellt wurden) oder nach Auschwitz.
Im Generalgouvernement hatte Generalgouverneur Hans Frank bereits am 26. Ok-
tober 1939 Zwangsarbeit für Juden angeordnet.54 Die hier seit 1940 existierenden ZAL
unterstanden dem Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF). Nachweisbar ist, dass im
Laufe des Jahres 1940/41 in den Distrikten Lublin, Warschau und Radom etwa 76
ZAL
für verschiedene Großprojekte eingerichtet wurden, die allerdings nur kurze Zeit be-
standen. Auf lange Sicht waren vor allem diejenigen ZAL von Bedeutung, die im Zu-
sammenhang mit Straßenbauprojekten oder dem Bau von Eisenbahnlinien standen.
Für das 1940 beschlossene Programm «Straßenbau Ost», das eine Transitverbindung
zwischen dem Deutschen Reich und dem Generalgouvernement schaffen sowie die
Verbindungen zwischen den Distrikten modernisieren sollte, arbeiteten etwa 7000 Ju-
den, die in 15 ZAL untergebracht waren. Für die sogenannte «Durchgangsstraße IV»,
die Lemberg und die Grenze des Reichskommissariats Ukraine verbinden sollte, wur-
den bis Herbst 1942 30 ZAL mit etwa 10.000 Häftlingen errichtet.
In der ersten Kriegshälfte stellten die ZAL in den eroberten polnischen Gebieten
also eine typische NS-Terrorstätte dar, die jedoch in Anbetracht der generellen Poli-
tik der Nationalsozialisten gegenüber den polnischen Juden in jener Zeitphase keine
dominierende Bedeutung hatte. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der vergleichsweise ge-
ringen Zahl der dort gefangen gehaltenen Menschen. Im Vordergrund des nationalso-
zialistischen Handelns stand vielmehr zunächst und vor allem die Konzentration der
jüdischen Bevölkerung in den Ghettos. Wie unterschiedlich die Ghettos gestaltet wa-
ren und welche gigantischen Ausmaße einzelne Ghettos annahmen
– in den Großghet-
tos Litzmannstadt/Łódź55 oder Warschau waren zeitweise 160.000 bis 500.000 Insassen
54 Vgl. zum Folgenden Dieter Pohl : Die großen Zwangsarbeitslager der SS- und Polizeiführer für Juden im
Generalgouvernement 1942–1945, in : Herbert et al. (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationsla-
ger, Bd. 1, S. 415–438, hier v. a. 415–418, sowie Wenzel, Zwangsarbeitslager, S. 128–130.
55 Vgl. zuletzt Peter Klein : Die «Gettoverwaltung Litzmannstadt» 1940 bis 1944. Eine Dienststelle im Span-
nungsfeld von Kommunalbürokratie und staatlicher Verfolgungspolitik, Hamburg 2009 ; Gordon J. Hor-
witz : Ghettostadt. Łódź and the Making of a Nazi City, Cambridge, MA 2008.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen