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248 | Christian DĂĽrr und Ralf Lechner
nationalsozialistischen Konzentrationslager sollte durch eine automatisierte Erfassung
der Häftlingsdaten in den einzelnen Lagern sowie zentral im SS-WVHA ermöglicht
werden.161 Die Kriterien, nach denen Personengruppen in Konzentrationslagern in-
haftiert und innerhalb des KZ-Systems verschoben wurden, waren also zunehmend
ökonomischer Art. Dies wirkte sich auch auf die Rolle und Funktion des Hauptlagers
Mauthausen sowie aller anderen KZ-Stammlager aus. Während zum einen die arbeits-
fähigen Häftlinge aus dem Hauptlager in die verschiedenen Außenlager abgezogen
wurden, schickte man zum anderen die zur Arbeit untauglich gewordenen, kranken
oder verletzen Häftlinge von dort regelmäßig zurück in das Hauptlager. In Mauthausen
wurden sie in der Regel in dem seit März 1943 als solches bestehenden «Sanitätslager»
untergebracht. Das Sanitätslager war de facto nichts anderes als ein Sterbelager : Die
Ernährung dort war rudimentär, eine medizinische Versorgung kaum vorhanden und
die hygienischen Bedingungen katastrophal. Wer nicht an Krankheiten, Seuchen oder
Unterernährung verstarb, lief Gefahr, zum Opfer regelmäßiger Selektionen zu werden
und mittels Herzinjektionen ermordet oder zur Vergasung nach Hartheim geschickt
zu werden. Zudem rekrutierten die SS-Ärzte die menschlichen Objekte für ihre medi-
zinischen Versuche bevorzugt aus den Reihen der Häftlinge des Sanitätslagers.162 Im
Frühjahr und Sommer 1944 war zeitweise mehr als die Hälfte aller in Mauthausen
festgehaltenen Häftlinge im Sanitätslager untergebracht, mit dem Eintreffen der Eva-
kuierungstransporte aus dem Osten erreichte dieses im März 1945 gar einen Stand von
weit über 7000 zumeist schwer kranken Häftlingen.163
In Erwartung großer Häftlingstransporte wurde ab Frühjahr 1944 das Schutzhaft-
lager um die Lagerteile II und III erweitert. Der zuletzt als Quarantänelager genutzte
Bereich der Baracken 16 bis 20 wurde zur selben Zeit mit einer Steinmauer umfasst, die
161 Zu dem sogenannten Hollerith-System vgl. Edwin Black : IBM und der Holocaust. Die Verstrickung
des Weltkonzerns in die Verbrechen der Nazis, München/Berlin 2001, besonders das Kapitel «Ver-
nichtung», S. 470–502. In Mauthausen bestand eine der größten Hollerith-Abteilungen sämtlicher
Konzentrationslager. Mittels einer Lochkartei und den notwendigen Datenverarbeitungsmaschinen
zur tabellarischen Auswertung wurde in der Abteilung «Arbeitseinsatz» genau Statistik über die Häft-
lingspopulation im System Mauthausen gefĂĽhrt. Mit der Einrichtung einer zentralen Statistikstelle im
WVHA ab Jänner 1944 wurde zudem die elektronische Häftlingserfassung für das gesamte KZ-System
angestrebt (vgl. ebd., S. 480–486). Im Endeffekt scheiterten die Pläne zur vollständigen automatisierten
Erfassung der KZ-Häftlinge vermutlich jedoch am administrativen Aufwand. Vgl. Christian Römmer :
Ein gescheitertes SS-Projekt. Die zentrale Häftlingskartei des WVHA, in : Dachauer Hefte 25 (2009),
S. 135–142.
162 Zu den medizinischen Experimenten in Mauthausen und Gusen siehe Paul Weindling : Medizinische
Gräueltaten in Mauthausen und Gusen. Die Opfer erzwungener Forschung im Nationalsozialismus, in :
Bundesministerium für Inneres (Hg.), KZ-Gedenkstätte Mauthausen | Mauthausen Memorial 2011.
Forschung – Dokumentation – Information, Wien 2012, S. 41–54.
163 Vgl. Rapportbuch Bewegungen der AuĂźenkommandos, AMM, E/6/11, sowie Arbeitsberichte des Ar-
beitsdienstführers, AMM, F/2/15 ; siehe auch die entsprechende tabellarische Auswertung in : Maršálek,
Geschichte, S. 156 f.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Band 1
- Titel
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Band
- 1
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Heinrich Berger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 426
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen