Seite - 23 - in Deportiert nach Mauthausen, Band 2
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licher Hinsicht – entscheidend auf die Überlebenschancen während der Haft und in
weiterer Folge auch auf die Erinnerungen an und auf das Erzählen über Mauthausen
auswirkten. Der «lange Weg» nach Mauthausen entspricht nur bedingt der von Bruno
Bettelheim formulierten These, wonach die Ankunft in einem Konzentrationslager
einen radikalen Übergang von einer Welt in eine andere darstellte und die Neuan-
kömmlinge einen «Eingangsschock» erlitten, von dem sie sich so schnell wie möglich
erholen mussten, um zu überleben, da sie sonst als «Muselman» endeten und früher
oder später starben.28
Diese Sicht der Lagererfahrung geht davon aus, dass die extremen Bedingungen der
Konzentrationslager in einem radikalen Gegensatz zur bisherigen Lebenswelt der Häft-
linge standen, aus der sie mit Gewalt gerissen wurden, und das Lager daher nicht nur
die physische Existenz bedrohte, sondern auch die psychische Integrität. Dagegen hat
bereits der deutsche Historiker Falk Pingel darauf hingewiesen, dass Erfahrungen, die
vor dem Konzentrationslager gemacht wurden, die Fähigkeit, sich der Lagersituation
anzupassen, beeinflussten. Ein Inventar an Verhaltensmustern, das in der vorkonzent-
rationären Zeit erworben worden war, erleichterte es Häftlingen, die Lagersituation in
ihren neuen Lebenshorizont zu integrieren.29 Sie kannten bereits soziale Hierarchien
und überlebenssichernde Verhaltensweisen in Lagern, hatten sich in manchen Fällen
für das Überleben im Lager wichtige Sprachen und Lagerjargons aneignen können und
wussten, welche Berufe und Kenntnisse im Lager «gebraucht» wurden.
Der slowenische Häftling Dušan Stefančič, der Ende August 1944 in Mauthausen
eintraf und zuvor in den Konzentrationslagern Dachau und Natzweiler gewesen war,
macht dies in seinem Interview auf eindrückliche Weise deutlich : Er betont die schwe-
ren Konsequenzen solcher Verlegungen, vor allem den Verlust von Freunden, mit de-
nen man die wenige freie Zeit verbringen, und von Beziehungen, über die man sich
zusätzliche Lebensmittel und andere lebensnotwendige Dinge verschaffen konnte. «Als
man in ein anderes Lager versetzt wurde, war mit alledem Schluss. Man war halt ein
Neuling … und es dauerte eine gewisse Zeit, bis man sich neue Verbindungen schaffen
konnte.»30 Solche Verhaltensweisen waren nicht unbedingt auf vorangegangene Er-
fahrungen von Haft und Internierung beschränkt, sondern wurden oft bereits in der
28 Bruno Bettelheim : Individual and Mass Behavior in Extreme Situations, in : ders.: Surviving and Other
Essays, New York 1979, S. 48–83, hier 55. Ähnlich argumentiert Terrence Des Pres, eigentlich ein Kritiker
Bettelheims, in : The Survivor. An Anatomy of Life in the Death Camps, Oxford/New York 1980, S. 76.
29 Falk Pingel : Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzen-
trationslager, Hamburg 1978 (Historische Perspektiven, 12), S. 12 f. Ausgehend von Paul Matussek : Die
Konzentrationslagerhaft und ihre Folgen, Berlin 1971 (Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psy-
chiatrie, 2), S. 32–37, vgl. dazu auch Gerhard Botz : Überleben im Holocaust, in : Margareta Glas-Larsson :
Ich will reden. Tragik und Banalität des Überlebens in Theresienstadt und Auschwitz, kommentiert und
hg. v. Gerhard Botz unter Mitarbeit von Anton Pleimer und Harald Wildfellner, Wien et al. 1981, S. 53–
61, hier 58.
30 AMM, MSDP, OH/ZP1/695, Interview mit Dušan Stefančič, Interviewer : Božo Repe, Ljubljana, 8. 1. 2003.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen