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62 | Melanie Dejnega
Jugendzeit von der Suche nach sozialem Anschluss, den er bei «Neuland» gefunden
hatte und – so scheint es – auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme
nicht mehr verlieren wollte.
Leopold Redlinger beschreibt in der Erzählung von seiner Kindheit und Jugend eine
fortwährende Präsenz zweier weltanschaulicher Pole, zwischen denen er als Jugendli-
cher oszillierte und die ihn in seinem weiteren Leben prägen sollten. Obwohl beide
Elternteile als Juden galten, waren jüdische Herkunft oder Religion während seiner
Kindheit im Elternhaus zunächst kein Thema gewesen. Nach der Scheidung seiner El-
tern zog der Zehnjährige vorübergehend zu seinem Vater, wenig später aber mit seiner
Mutter und seinen Geschwistern zu den GroĂźeltern in ein jĂĽdisches Viertel in Mat-
tersburg.
«Aber vorher hat mein Vater versucht in Berndorf sich noch eine Existenz aufzubauen. Und
hat ein Lebensmittelgeschäft eröffnet. Und da bin ich als Zehnjähriger mit Rucksack zu ihm,
und da hat er mir Lebensmittel gegeben, mitgegeben. Also ich hab eigentlich, dass damals –
das Verhältnis zum Vater, ich hab das nicht so empfunden wie die älteste Schwester. […] Es
wurde gestritten und alles Mögliche. Also das/ Es war dann nicht mehr schön. Und da musste
ich dann nach Mattersburg ins Ghetto zurĂĽck. Das war fĂĽr mich von einem Extrem ins an-
dere. Weil im Ghetto war/ mit der Religion, das war alles nicht der Fall, und da wurde ich
wieder ganz umdis/ umdirigiert, also, religiös. Zum Beispiel durfte ich nicht mein/ Ich hab
Geige spielen gelernt in Berndorf, ich durfte nicht, weil da war die Fastenzeit, oder irgendwas
war, und da durfte ich nicht. Hat die Großmutter gesagt : ‹Jetzt kann man nicht Geige spielen !›
Und da hab ich meine Geige hergeben müssen.»24
Redlingers Erinnerung zufolge hatte sich sein Vater – im Gegensatz zur mütterlichen
Seite der Familie – nie als Jude identifiziert und war sozialdemokratisch gesinnt ge-
wesen. Als Redlinger sich in Wien gegen den Willen seiner Mutter kommunistischen
Organisationen anschloss, kam es letztlich zum Bruch mit seiner Verwandtschaft mĂĽt-
terlicherseits und damit auch mit dem jüdisch-religiösen Teil seiner Familie. Gegen-
wärtige Zweifel ob der Richtigkeit dieser Entscheidung – vor allem hinsichtlich der
Tatsache, dass seine Mutter und Schwester später von den Nationalsozialisten als Juden
verfolgt und ermordet wurdenÂ
– werden im Interview an Stellen ersichtlich, wo Redlin-
ger von dieser entscheidenden Weichenstellung in seinem Leben berichtet :
«Und die waren, die wollten unbedingt, ich sollte unbedingt in der Bäckerei weiter arbeiten
und so weiter. Ich soll die Politik lassen. Na ja. Man verrennt sich halt. Heute wĂĽrde ich das
vielleicht anders sehen. Die Tragödie war, dass ich meine Mutter, bevor sie deportiert worden
ist nach Auschwitz, noch gesehen habe, zwei Monate vorher …»25
24 AMM, MSDP, OH/ZP1/143, Interview Redlinger.
25 Ebd.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen