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64 | Melanie Dejnega
Armen übrig» habe als die katholische Kirche, was ihn letztlich dazu brachte, sich 1936
als Zeuge Jehovas taufen zu lassen :
«Weil man mit der Kirche, mit der katholischen Kirche nicht einverstanden ist gewesen. Man
hat gesehen, dass, den Reichtum und so weiter, und alles. Und dass sie für die armen Leute
eigentlich wenig übriggehabt haben und so weiter. Und da, laut dieser Lehre, wäre halt den
Armen mehr da gewesen, als wie für die […]. Und um das hat man sich nachher mehr inter-
essiert. Und dann ist es eben so weit gekommen, dass man da fest [?] ist.»26
Die Erzählung Hechenblaikner über seine Kindheit und Jugend beinhaltet zwar sehr
wohl auch romantisierende Episoden, in denen der Interviewte das Bild einer «lusti-
gen», geselligen Familie zeichnet, die abends zusammenkam und mit den Nachbarn
gemeinsam musizierte. Den konstanten roten Faden der Erzählung bildet allerdings
die Darstellung der armen Verhältnisse, in welchen der Interviewte aufwuchs. Als ihn
der Interviewer um eine übergreifende Beschreibung seiner Kindheit bittet, tritt diese
Grundierung seiner Erzählung klar zutage :
AL : «Wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken, war das eine schöne Kindheit oder eine be-
schwerliche, oder wie würden Sie das beschreiben ?»
JH : «Ja. Ich würde sagen, man ist dazumal zufrieden gewesen. Man hat nichts anderes gesehen,
weil es jedem gleich gegangen ist, weil keiner nichts gehabt hat. Das ist … da hat man sich
nichts anderes gedacht. Wenn wir, sagen wir, so eine Zeit gehabt hätten, wie es heute wäre,
vielleicht wären wir auch anders gewesen. Aber dazumal hat ja niemand etwas gehabt. […] stu-
dierte Leute sind da betteln gegangen, die keine Arbeit gehabt haben, nichts. Da hat einer dem
anderen die Türschnalle in die Hand gegeben. Da ist man froh gewesen, wenn man irgendwie
eine Arbeit gekriegt hat, das ist ganz gleich gewesen, was. Ist es eine schöne gewesen oder eine
schiache27, Hauptsache man hat eine gehabt, dass man ein bisschen was verdient hat.»28
Trotz konkreter Nachfragen des Interviewers verneint der Zeitzeuge die Existenz einer
solchen Perspektivenlosigkeit in seiner Jugend – seine Situation damals erscheine viel-
mehr lediglich aus heutiger Sicht als perspektivenlos. Entgegen diesem geschilderten
Gefühl der Gleichgültigkeit gegenüber seiner Situation scheint sich Hechenblaikner
allerdings sehr wohl seiner sozialen Situation bewusst gewesen zu sein : Im Interview
erzählt er, dass er aus dem gleichen Grund sowohl von den illegalen Nationalsozialis-
ten begeistert gewesen als auch den Zeugen Jehovas beigetreten sei : der Suche nach
sozialer Gerechtigkeit.
26 AMM, MSDP, OH/ZP1/363, Interview Hechenblaikner.
27 In Österreich dialektaler Ausdruck für «hässlich».
28 AMM, MSDP, OH/ZP1/363, Interview Hechenblaikner.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen