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Weggabelungen und Einbahnstraßen |
Novemberpogroms 1938, als die Verfolgung der österreichischen Juden und Jüdin-
nen immer stärkere Ausmaße annahm. Die später erfolgende Wende zum «wir» in der
Erzählung lässt darauf schließen, dass Kleinmann Verhaftung und Deportation – im
Gegensatz zu Michael Horvath – vor allem in Zusammenhang mit solidarischem Ver-
halten erzählt. Aus der Erinnerung an diese Solidarität resultiert schließlich die Erzäh-
lung aus der Perspektive einer Wir-Gruppe (sowohl gemeinsam mit seinem Vater als
auch als «Wiener» oder «Österreicher»), die suggeriert, dass Kleinmann einer Gruppe
angehörte, innerhalb dieser Gruppe bestimmte Erfahrungen teilte und handlungsfähig
geblieben ist.
Narrative Wege nach Mauthausen : Jugend, Anschluss und Verhaftung/
Deportation in Überlebensgeschichten
Welche Aussagen können nun auf der Basis einer Analyse der Erzählungen der Inter-
viewten über ihre Wege nach Mauthausen getroffen werden ? Erfährt man etwas über
die Räume, die die Überlebenden durchschritten, was über bloße Erinnerungsskiz-
zen hinausgeht ? Wohl kaum. Denn ohne die Heranziehung zusätzlicher (schriftlicher,
prozessproduzierter) Quellen kann Oral History diese Antworten nicht liefern. Zu
sehr «schichten» sich dazu Erfahrungen der Interviewten aus unterschiedlichen Zeiten
«auf»,48 beeinflusst von einer Vielzahl unterschiedlicher Erinnerungsgeneratoren auf
subjektiver wie diskursiver Ebene.
Sehr wohl geben die Interviews aber Auskunft darüber, wovon die Interviewten be-
richteten (und worüber nicht), als sie in den Jahren 2002/03 dazu aufgefordert wurden,
sich an ihre Zeit vor der Deportation ins nationalsozialistische Lagersystem zu erin-
nern. Die zentralen Motive in den Erzählungen sind mit den historischen hard facts
eng verwoben, wenn nicht sogar Ergebnis derselben. Denn der Erlass der Nürnberger
Gesetze, die Zunahme nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen gegenüber po-
litisch Andersdenkenden, die starke Hierarchisierung innerhalb der Häftlingsgesell-
schaft ebenso wie unterschiedliche Prozesse der (Nicht-)Anerkennung als Opfer des
Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit sind historische Strukturen, die Erfahrung,
Erinnerung und Erzählung von Vergangenem wesentlich mitbestimmten.49
Die auf die Narration zielende Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen ermög-
licht es herauszufinden, wie sich diese historischen Realitäten in die Erinnerungen des
Einzelnen über Jahrzehnte hinweg einschreiben. Sie ermöglicht uns darüber hinaus,
48 Zum Konzept der «Erfahrungsaufschichtung» in lebensgeschichtlichen Interviews siehe Ulrike Jureit :
Erfahrungsaufschichtung. Die diskursive Lagerung autobiographischer Erinnerung, in : Magnus Brecht-
ken (Hg.), Life Writing and Political Memoir. Lebenszeugnisse und politische Memoiren, Göttingen
2012, S. 225–242.
49 Siehe hierzu ausführlich Dejnega, Rückkehr in die Außenwelt.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen