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84 | Peter Hallama
Anzahl der meist jüdischen Häftlinge, die in den letzten Tagen, Wochen und Monaten
vor Kriegsende auf Todesmärschen aus anderen Lagern nach Mauthausen getrieben
worden waren, identifizierte man dagegen kaum als «Mauthausen-Häftlinge». Sie ka-
men in größerem Ausmaß erst in den letzten zwei Jahrzehnten – und zudem oft nicht
in ihrem Geburtsland – zu Wort.9
Neben der Betonung des Widerstands und der «aktiven» Opfer fällt ein weiterer
Schwerpunkt in der tschechoslowakischen Weltkriegserinnerung auf, nämlich der geo-
grafisch enge Blick auf die Geschichte des Protektorats : Dass unter «tschechischer Ge-
schichte» der Jahre 1938 bis 1945 meist die Geschichte des Protektorats Böhmen und
Mähren verstanden wird, ist nicht nur auf pragmatische, forschungstechnische Gründe
zurückzuführen,10 sondern lässt sich durchaus auch durch nationalistische und ethno-
zentristische Tendenzen in der tschechischen Gesellschaft erklären, wodurch etwa die
Geschichte der nationalen Minderheiten ausgeblendet wird. Zwar wird dieser einge-
schränkte Blickwinkel, der die tschechische Historiografie bis heute prägt, zunehmend
kritisiert, dennoch fällt eine gemeinsame Betrachtung des einst tschechoslowakischen
Gebietes im NationalsozialismusÂ
– und dies wird auch in vorliegendem Text ersichtlich
werden – nicht einfach.11
Die Tschechoslowakei, 1918 als ethnisch wie religiös heterogener Staat errichtet,
wurde 1938 und 1939 aufgrund innerer und äußerer Zersetzungstendenzen in mehrere
Teile zerschlagen. Nach dem MĂĽnchner Abkommen von 1938 wurden die sogenann-
ten Sudetengebiete direkt dem Deutschen Reich eingegliedert, dabei manche Regio-
nen bereits bestehenden Gauen wie Ober- und Niederdonau angeschlossen, andere zu
einer neuen Verwaltungseinheit, dem «Reichsgau Sudetenland», vereinigt. Außerdem
wurde im Oktober 1938 das Gebiet um die polnisch-tschechische Doppelstadt Teschen
(TěšĂn/Cieszyn) von Polen annektiert12 sowie die SĂĽdslowakei und ein Teil von Trans-
9 Siehe etwa Lisa Scheuer : Vom Tode, der nicht stattfand. Theresienstadt, Auschwitz, Freiberg, Mauthau-
sen. Eine Frau überlebt, Reinbek 1983 ; Zdenka Fantlová : «In der Ruhe liegt die Kraft», sagte mein Vater,
Bonn 1999 [tschechische Originalausgabe 1996] ; Peter Erben : Auf eigenen Spuren. Aus Mährisch-Ost-
rau durch Theresienstadt, AuschwitzÂ
I, Mauthausen, GusenÂ
III ĂĽber Paris nach Israel. JĂĽdische Schicksale
aus der Tschechoslowakei, hg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz 2001 ; Michael DĂĽsing (Hg.) : Wir waren
zum Tode bestimmt. Lódz – Theresienstadt – Auschwitz – Freiberg – Oederan – Mauthausen. Jüdische
Zwangsarbeiterinnen erinnern sich, Leipzig 2002.
10 So finden sich beispielsweise, konkret auf das hier zu behandelnde Thema bezogen, Sudetendeutsche
in Mauthausen in der KZ-Kategorie als «DR», das heißt als «reichsdeutsche» Häftlinge wieder oder
Juden aus der Karpato-Ukraine in den Statistiken der Deportationen von 1944 und 1945 als «ungarische
Juden».
11 Siehe jĂĽngst Jaroslav KuÄŤera/Volker Zimmermann : Zum tschechischen Forschungsstand ĂĽber die NS-
Besatzungsherrschaft in Böhmen und Mähren. Überlegungen anlässlich des Erscheinens eines Standard-
werkes, in : Bohemia 49.1 (2009), S. 164–183.
12 Nach der deutschen Besetzung Polens 1939 wiederum fiel das ursprĂĽnglich tschechoslowakische Gebiet
um Teschen, das sogenannte Olsa-Gebiet oder Teschener Schlesien, als Teil der Provinz Schlesien (ab
1941 Oberschlesien) an das Deutsche Reich.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen