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Deportiert nach Mauthausen, Band 2
Seite - 112 -
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112 | Piotr Filipkowski und der Zeit vor dem Lageraufenthalt, aber auch während des Lageraufenthalts (!) die- ser beiden Zeitzeugen kann man als die am weitesten voneinander entfernten unter den nahezu 170 von uns befragten Personen ansehen. Zwischen diesen beiden Extre- men liegt das gesamte vielfältige Spektrum der polnischen Wege nach Mauthausen.4 Beginnen wir bei dem offensichtlichsten Unterschied unserer Zeitzeugen  – beim Geburtsdatum, also beim Alter. Das Geburtsjahr 1910 ist vom Geburtsjahr 1931 durch eine Generation getrennt. Das kann man heute leicht übersehen, denn jeder Zeitzeuge ist nunmehr ein alter Mensch. Aber damals, als sie ins Lager gelangten, war ein Un- terschied von über 20  Jahren nahezu eine Kluft. Erwachsene nehmen die Welt anders wahr als Kinder. Auch die Welt im Lager. Und dieser Unterschied ist ebenso objektiv wie subjektiv. Aber dieser Grad an psychophysischer (Un-)Reife ist nur eine Dimension jenes Un- terschieds. Eine andere, jedoch genauso wichtige Dimension ist die Lebenserfahrung in der Zeit vor dem Lager. Die Ältesten unserer Zeitzeugen hatten die Mittelschule oder die Hochschule beendet, waren berufstätig, hatten Familien, manchmal sogar Kinder. Die Jüngsten hatten lediglich einige Klassen Grundschule absolviert. Sie wuchsen in der Besatzungszeit auf. Einige, wenn auch nur wenige von ihnen, hatten unter der Be- satzung nicht unmittelbar zu leiden. Das waren jene, deren Eltern und Verwandte ih- nen diesen Schutz bieten konnten. Jedenfalls erinnern sie sich an den Krieg nicht als an einen besonderen Zustand, etwas Außergewöhnliches. Er spielte sich einfach im Hintergrund ihrer relativ normalen Kindheit ab. Die Kindheit schien umso normaler, je weniger sie sich an die Vorkriegszeit erinnern konnten. Überdies kannten sie keine andere Kindheit. Erst der Ausbruch des Aufstands, die Verhaftung durch die Deut- schen und der Transport ins KZ brachten eine radikale Änderung ihres Lebens  – sie gelangten auf eine individuelle und kollektive Verlaufskurve5. Innerhalb von nur ei- nigen Tagen wurde ihre Kindheit jäh und überaus brutal unterbrochen. Das Eintreffen im Lager und die Konfrontation mit der Lagerwelt stellte für die Jüngsten wahrschein- lich den größten Schock6 dar, denn sie waren am wenigsten darauf vorbereitet. 4 In dem Beitrag benutze ich den Begriff «Mauthausen», um das gesamte Lagersystem zu bezeichnen  – auch um zu betonen, dass fast jedes Außenlager polnische Häftlinge hatte. Gusen hat jedoch aus polni- scher Sicht einen besonderen Platz in diesem System  – die Polen waren dort die größte Häftlingsgruppe, viele von ihnen wurden direkt nach Gusen gebracht und erhielten dort eine eigene Nummerierung. Schließlich wurde in Gusen eine spezifische Lagerkultur geschaffen, an der eine große Zahl polnischer Häftlinge, insbesondere aus der Intelligenz, teilnahm, was die Form der Erinnerung an dieses Lagersys- tem im Nachkriegspolen maßgeblich beeinflusste (ausführlicher dazu im Artikel des Autors im Band  4). 5 Die Bezeichnung «Verlaufskurve» verwende ich in der Bedeutung von Fritz Schütze in dessen Konzept der lebensgeschichtlichen Prozessabläufe ; vgl. z. B. Fritz Schütze : Prozessstrukturen des Lebenslaufs in : Joachim Matthes (Hg.), Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive, Nürnberg 1981, S. 67– 156. 6 Zu den Erlebnissen unserer jüngsten Gesprächspartner, die im August und September 1944 in den «Warschauer Transporten» nach Mauthausen gebracht wurden, vgl. den Aufsatz von Katarzyna Madoń- Mitzner in diesem Band. Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen Band 2
Titel
Deportiert nach Mauthausen
Band
2
Autoren
Gerhard Botz
Alexander Prenninger
Regina Fritz
Herausgeber
Melanie Dejnega
Verlag
Böhlau Verlag
Ort
Wien
Datum
2021
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
ISBN
978-3-205-21216-4
Abmessungen
16.8 x 23.7 cm
Seiten
716
Kategorien
Geschichte Historische Aufzeichnungen
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