Seite - 113 - in Deportiert nach Mauthausen, Band 2
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113Biografische
Hintergründe und präkonzentrationäre Identitäten von polnischen Deportierten |
Die meisten von uns interviewten Zeitzeugen wurden in den zwanziger Jahren des
20. Jahrhunderts geboren, sie konnten sich an ihre Kindheit und frĂĽhe Jugend in der
Vorkriegszeit gut erinnern. Der Kriegsausbruch bedeutete fĂĽr sie in der Regel eine ra-
dikale und dauerhafte Änderung. Sie waren gezwungen vorzeitig erwachsen zu wer-
den, ihre Lebensumstände verschlechterten sich drastisch, sie mussten arbeiten, ihren
Angehörigen (der Mutter, den jüngeren Geschwistern) helfen, wurden sogar verfolgt.
Häufig waren sie in verschiedene Untergrundaktivitäten eingebunden : Sie sabotierten
die deutschen Ordnungsvorschriften, organisierten Lebensmittel, lernten in geheimen
Bildungseinrichtungen, engagierten sich in der verbotenen Pfadfinder- oder einer ähn-
lichen Organisation, einige nahmen auch an bewaffneten Aktionen der Widerstands-
bewegung teil. Der gemeinsame Nenner dieser vielfältigen Schicksale in der Besat-
zungszeit ist jedoch nicht ein bewusster Kampf gegen den Okkupanten, sondern eher
die Sozialisierung während des Kriegs und der Besatzung, unter instabilen, veränder-
lichen und fremdbestimmten Bedingungen – unter Umständen, die man kaum oder
gar nicht kontrollieren konnte, mit vielen Zufällen und Unberechenbarkeiten. Diese
absonderlichen und abnormalen Lebensbedingungen sind ständige (obwohl variable)
Begleiter des Heranreifens, der Jugend, des Erwachsenwerdens – sie werden zum All-
tag.
In solchen Erzählungen wird Mauthausen (bzw. Gusen) häufig zur letzten Etappe
eines sehr verschlungenen Weges während der Besatzungszeit. Diese Etappe ist meis-
tens sehr deutlich und gut in Erinnerung, auch deshalb, weil es die letzte Etappe war,
die mit der Befreiung abgeschlossen wurde. Diese Etappe ist jedoch nicht unbedingt
eine besondere, eine, die sich wesentlich von anderen Episoden aus der Kriegszeit
unterscheidet. Vor allem fĂĽr die vielen Personen, die auf ihrem Weg in dieses Lager
andere KZ-Lager und Gestapo-Gefängnisse durchlaufen haben, die verhört, gefoltert,
von deutschen Gerichten verurteilt wurden oder «nur» Zwangsarbeiter in deutschen
Fabriken oder auf Bauernhöfen waren.
Diese vielfältigen Schicksale unserer Gesprächspartner aus der Zeit vor dem Lager
(und dann im Lager) standen in einem gewissen Zusammenhang mit ihrem Leben vor
dem Krieg, mit ihrer sozialen Identität, mit den soziokulturellen Rahmen, in denen
sie vor dem Krieg lebten und in denen ihr Alltagsleben verhaftet war. Auch wenn in
der Besatzungszeit häufig Zufälle entscheidend waren, so traten diese Zufälle in den
verschiedenen sozialen Gruppen, Milieus und Feldern nicht ganz zufällig auf.
Wenn wir auf diese Narrationsfragmente der polnischen Zeitzeugen aus Mauthau-
sen genauer eingehen, in denen sie ĂĽber ihr Vorkriegsleben berichten, erhalten wir ein
breites Spektrum an vielen sozialen Welten, in denen sie lebten. In ihren Erzählungen
sind das häufig die detailreichsten Beschreibungen. Zuweilen sind sie idealisiert, vor
allem wenn der Krieg die Kindheits- und Jugendwelt der Erzähler zunichtegemacht
hat. Zuweilen sind sie weit von einer Idealisierung entfernt – wenn der Kriegsaus-
bruch lediglich eine Verschlechterung des frĂĽheren Schicksals bedeutet : der Armut,
des Hungers, der schweren Arbeit.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Buch Deportiert nach Mauthausen, Band 2"
Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen