Seite - 114 - in Deportiert nach Mauthausen, Band 2
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114 | Piotr Filipkowski
Polnische Mauthausen-Häftlinge kamen aus verschiedenen sozialen Schichten, ver-
schieden war vor dem Krieg auch ihre Stellung in der sozialen Hierarchie. Die deut-
lichste und kohärenteste Gruppe in Mauthausen war ohne Zweifel die Intelligenz. Aus
dieser Gruppe stammten die ältestenÂ
– dem Alter und der Haftdauer nachÂ
– polnischen
Ăśberlebenden aus Mauthausen. Genauer gesagt vor allem aus Gusen, denn dorthin
gelangten sie meistens mit Transporten aus Dachau oder Sachsenhausen bzw. ab dem
Frühling 1940 direkt aus Warschau. Die Bezeichnung «Intelligenz» ist nicht ganz klar,
man kann jedoch annehmen, dass im Vorkriegspolen dies Personen mit zumindest
mittlerer Schulbildung und Reifeprüfung waren : Ärzte, Apotheker, Juristen, Lehrer,
Priester und Kleriker, Studenten, StaatsbeamteÂ
… Nach dem Überfall des «Dritten Rei-
ches» auf Polen wurden sie – neben der jüdischen Bevölkerung – die ersten Opfer der
nationalsozialistischen Repressionen. Die Vernichtung der Eliten, der FĂĽhrerschichten
der polnischen Bevölkerung – auch der zukünftigen und der potenziellen – war eines
der Hauptziele der deutschen Besetzung Polens schon zu Kriegsbeginn.7
Wir konnten nur wenige Berichte von Zeitzeugen aus dieser Gruppe während des
Projekts aufzeichnen – nur ein kleiner Teil von ihnen hat die Befreiung erlebt. Und
die wenigsten dieser Ăśberlebenden haben bis zu Beginn unseres Jahrhunderts gelebt,
als wir die Interviews machten. Es ist uns gelungen, an die zwanzig Berichte dieser
ZeitzeugengruppeÂ
– der ältesten HäftlingeÂ
– aufzunehmen. Ihre ErzählungenÂ
– sowohl
die aus der Zeit vor dem Lager als auch jene aus dem Lager selbst – unterscheiden
sich deutlich von allen ĂĽbrigen, die wir aufgezeichnet haben. Sie weichen im Inhalt ab,
denn ihre Erfahrungen sind anders, und breiter ist auch ihr Spektrum. Sie unterschei-
den sich auch in der Form, denn diese Erzählungen wurden von Personen formuliert,
die besonders stark in der elitären oder höheren Kultur verwurzelt waren und über
gute historische und literarische Kenntnisse verfĂĽgten. Dies hat eine SchlĂĽsselbedeu-
tung fĂĽr die Narration ĂĽber das eigene Schicksal.
Die ersten polnischen Häftlinge in Mauthausen bzw. Gusen im Frühjahr 1940 ge-
hörten dieser Intelligenzgruppe an, die jüngsten von ihnen waren auf dem besten Weg
dazu. Aber in dieser scheinbar einheitlichen Gemeinschaft gab es dennoch wichtige
soziale Unterschiede – wichtig auch für das spätere Leben dieser Menschen im Lager
und die Ăśberlebensstrategie. Und noch wichtiger dafĂĽr, wie sie die Lagererlebnisse in-
terpretierten und welchen Sinn fĂĽr das weitere Leben sie diesen Erlebnissen zumaĂźen.
7 Bereits im Herbst 1939 wurde in den dem Deutschen Reich einverleibten polnischen Gebieten die
sogenannte «Intelligenzaktion» gestartet. Einige Monate später wurde eine ähnliche Aktion im Gene-
ralgouvernement unternommen, sie wurde weniger (oder vielleicht mehr) wörtlich benannt : Aktion
«AB» – Außerordentliche Befriedungsaktion. Einige der neuesten Arbeiten zu diesem Thema : Maria
Wardzyńska : Był Rok 1939. Operacja niemieckiej policji bezpieczeństwa w Polsce. Intelligenzaktion [Es
war 1939. Operationen der deutschen Sicherheitspolizei in Polen. Intelligenzaktion], Warszawa 2009
(Monografie, 53), sowie Jochen Böhler : Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939,
Frankfurt a. M. 2006 (Die Zeit des Nationalsozialismus).
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen