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118 | Piotr Filipkowski
selten direkt. Der Krieg, das Lager und insbesondere das Lagertrauma trugen zum
Verlust der sozialen Stellung bei oder vertieften diesen Verlust. Sie reduzierten vor al-
lem die Entwicklungschancen. Viele hatten ihre Familien und deren Unterstützung
verloren, den Bildungsweg abgebrochen, mussten sich ab der frühesten Jugend selbst
erhalten, oft Gelegenheitsarbeiten annehmen ; viele mussten sich mit dem Verlust des
gesamten Vermögens abfinden. Trotz dieses sozialen Abstiegs zeigen jedoch die Inter-
views mit den polnischen Mauthausen-Häftlingen, wie viel die Identität in der Vor-
kriegszeit und das Schicksal in der Zeit vor dem Lager für das Überleben bedeuten
konnten. Das heißt nicht, dass sie allein für das Überleben entscheidend waren. Das
heißt nur – aber auch –, dass sie die Chancen für das Überleben steigerten oder redu-
zierten. Dies erklärt zum Teil, warum wir nur so wenige Mauthausen-Überlebende
bäuerlicher Herkunft gefunden haben. Es gab zwar ziemlich viele solche Häftlinge in
Mauthausen, jedoch ihre Überlebenschancen waren sehr gering. Wer in der sozialen
Hierarchie vor dem Krieg ganz unten war, konnte im Lager nicht noch tiefer absteigen.
Wem es nicht gelang, Funktionshäftling zu werden, überlebte in der Regel nicht.12
Topografie der Besatzung
In den aufgezeichneten Berichten ist – neben den oben erwähnten Kriterien, die
die Unterschiede zwischen den polnischen Häftlingen aufzeigen – noch ein weiteres
Kriterium zu erkennen : die Region, aus der sie stammten. Es geht hier nicht um die
historisch-soziale Charakterisierung der Regionen, sondern um die ganz konkrete Si-
tuation dieser Landstriche während des Kriegs und der Besatzung. Nach dem Angriff
des Deutschen Reichs auf Polen am 1. September 1939 und dem Einmarsch der Roten
Armee im Osten des Landes 17 Tage später verfolgten die Besatzer in den einzelnen
Teilen Polens eine unterschiedliche Politik.13 Das bedeutete auch eine unterschiedliche
Behandlung der Bevölkerung.
Der östliche, von den Sowjets besetzte Teil Polens ist an dieser Stelle für uns weniger
relevant.14 Man darf jedoch nicht vergessen, dass dieser Teil ein Drittel des polnischen
12 Diejenigen, die wir doch gefunden haben, geben einen tiefen Einblick in die Erfahrungen dieser Gruppe
von polnischen Häftlingen, wie z. B. Antoni Żak (AMM, MSDP, OH/ZP1/741), Stefan Puc (AMM, MSDP,
OH/ZP1/583), Teofil Płonka (AMM, MSDP, OH/ZP1/374), Józef Bednarczyk (AMM, MSDP, OH/
ZP1/387). Siehe auch die weiteren Passagen dieses Beitrags.
13 Über die Teilung Polens in eine deutsche und sowjetische Einflusszone nach der bereits geplanten Inva-
sion gab es Vereinbarungen im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt, der von den Außen-
ministern des «Dritten Reiches» und der UdSSR am 23. August 1939 unterzeichnet worden war. Die
endgültige Grenzziehung nach dem Angriff auf Polen wurde im Deutsch-Sowjetischen Grenz- und
Freundschaftsvertrag festgelegt, der am 28. September 1939 in Moskau geschlossen wurde.
14 In den MSDP-Interviews gibt es einzelne Geschichten von Personen, die im September 1939 unter die
sowjetische Besatzung gerieten und verfolgt wurden. Vgl. z. B. AMM, MSDP, OH/ZP1/698, Interview mit
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen