Seite - 122 - in Deportiert nach Mauthausen, Band 2
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122 | Piotr Filipkowski
um die große Anzahl der Interviews mit den polnischen Überlebenden aus Mauthau-
sen übersichtlicher zu machen. Diese knappe Darstellung ist jedoch hilfreich, wenn
man sich in die einzelnen Berichte vertiefen will, um sie zu verstehen und in einem
breiteren sozialen und historischen Kontext genauer zu interpretieren. Versuchen wir
hier eine solche Interpretation einiger Fragmente aus diesen Berichten vorzunehmen,
wobei wir sie zuvor nach einigen der oben dargestellten Kategorien ordnen.20
«Ich wurde 1910, also noch zur Zarenzeit in einer Kleinstadt in Masowien, nahe der preußi-
schen Grenze, geboren. Mein Vater war Handwerker, ein guter Fachmann, der Damenschuhe
herstellte. Unsere Familie war ziemlich wohlhabend. […]»
«Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde direkt neben uns ein riesiges russisches Militärlager
eingerichtet. Vielleicht ab 1914, ab 1915 wurde dieses Lager schon bombardiert. Einmal fiel
ein Geschoss sogar in den Hof unseres Hauses, als ich ganz in der Nähe war, im Schweine-
stall. Meine Familie hatte große Angst, dass ich dabei umgekommen wäre. Für mich war das
natürlich ein sehr einschneidendes Erlebnis. […]»
«[1915] trieben uns die Kosaken aus der Stadt, sie sagten, sie werde in Brand gesetzt, damit
sie nicht den Deutschen in die Hände falle. Wir kehrten bald zurück, aber beim zweiten Mal
trieben sie uns fast bis zum Fluss Narew. Aber weil sich die Front näherte, jagten sie uns noch
weiter. Wir wanderten nach Osten. […] Als fünfjähriger Junge war das ein sehr großes Erleb-
nis für mich, ich bekam die unterschiedlichsten Sachen zu sehen, sogar sterbende Kinder in
diesem riesigen Transport, eigentlich Konvoi, der gegen Osten zog. […] In Kaluga wurden
wir aufgenommen und wir wohnten in diesem Kaluga bis zum Ausbruch/nein, nicht bis zum
Ausbruch der Revolution, sogar bis Juli 1918. […]»
20 Der hier vorgeschlagene methodische Ansatz steht in der Tradition der soziologischen Biografiefor-
schung, bei der ein einzelnes Interview – ein individuelles Zeugnis oder Oral-History-Interview – im
Mittelpunkt der Analyse steht. Im Vordergrund haben wir hier eine Biografie – oder, wie in unserem
Fall, eine Art «Kollektivbiografie» –, in der sich die Geschichte widerspiegelt oder in die sie, besser ge-
sagt, gewaltsam eingeprägt wird. Für die Erforschung von Lagererfahrungen in dieser Perspektive sind
hier zwei Arbeiten wegweisend : Michael Pollak : Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZ-
Überlebenden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit, Wien 22016 [1988] (Wiener Studien zur
Zeitgeschichte, 1), und Margareta Glas-Larsson : Ich will reden. Tragik und Banalität des Überlebens in
Theresienstadt und Auschwitz, kommentiert und hg. v. Gerhard Botz unter Mitarbeit von Anton Pleimer
und Harald Wildfellner, Wien et al. 1981. Im zweiten Fall ist der «Perspektivwechsel», um den es hier
geht, bereits darin sichtbar, dass die Autorschaft des Werkes der Überlebenden/Zeitzeugin/Interviewten
übergeben wurde. Diese Perspektive zur Erforschung der Erfahrungen polnischer Mauthausen-Überle-
bender wird auch in meinem Buch konsequent weiterentwickelt : Piotr Filipkowski : Oral History and
the War. The Nazi Concentration Camp Experience in a Biographical-Narrative Perspective, Berlin 2019
(Studies in Contemporary History, 7).
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen