Seite - 127 - in Deportiert nach Mauthausen, Band 2
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127Biografische
Hintergründe und präkonzentrationäre Identitäten von polnischen Deportierten |
gänzlich anderen sozialen Milieu gerecht zu werden : näher der Kirche, dem Staat oder
bei den Pfadfindern.29
Stanisław Dobosiewicz war vor dem Krieg Mitglied des Verbands Unabhängiger So-
zialistischer Jugend30, einer Jugendorganisation der Polnischen Sozialistischen Partei,
und – nach einer Spaltung – der sozialistischen Organisation Życie (Leben). Seine lin-
ken Ansichten begleiteten ihn bis zum Lebensende, er engagierte sich auch dafür. Als
wir im Jahr 2002 dieses Interview aufzeichneten, hatte mein Gesprächspartner vermut-
lich das Gefühl, dass dies – historisch und politisch gesehen – nicht der beste Augen-
blick für allzu linke Deklarationen war. Vielleicht betonte er deshalb seine gemäßigte
Überzeugung, bar jeglicher linksradikaler Aussagen – als wollte er allen unberechtig-
ten, anachronistischen Interpretationen seiner damaligen Ansichten und Betätigungen
zuvorkommen. «Ich war nie ein blinder Eiferer oder Fanatiker. Den Lehrerberuf nahm
ich sehr ernst.»
Ein weiterer Beweis für Patriotismus ist seine Erzählung über den Kriegsbeginn.
Stanisław Dobosiewicz war damals verheiratet und hatte ein Kind von zwei Mona-
ten. Aber er spricht kaum über seine Familie und die Bedrohung, die der Krieg für
sie brachte. Vielmehr berichtet er über seine Erlebnisse : seinen Versuch, am Verteidi-
gungskampf teilzunehmen, das allgemeine Chaos, das alle Aktionen lähmte,31 schließ-
lich über die Verhaftung und die unerwartete Freilassung. Er war sich wohl auch
dessen bewusst, dass die Besatzung im September von zwei Seiten kam. Diese ganze
abenteuerliche Schilderung ist stark in die historischen Gegebenheiten eingebettet.
29 Vgl. auch : AMM, MSDP, OH/ZP1/078, Interview mit Wacław Milke, Interviewer : Piotr Filipkowski, Płock,
15. 6. 2002 ; OH/ZP1/584, Interview Ceglarz.
30 Die in den Jahren 1917 bis 1938 existierende Studentenorganisation Związek Niezależnej Młodzieży So-
cjalistycznej (ZNMS) wurde von sozialistischen Aktivisten gegründet. 1923 kam es zu einer Abspaltung
einer radikalen Gruppe, die den kommunistischen Verband der Unabhängigen Sozialistischen Jugend
Życie (Leben) gründete. George J. Lerski : Historical Dictionary of Poland, 966–1945, Westport, CT 1996,
S. 622.
31 Wacław Pilarski, der ebenfalls der Akademiker-Gruppe angehört, erzählt in folgenden Worten über seine
Erlebnisse im September 1939 : «Ich kam zum Mobilisierungspunkt in Skierniewice. Das war schon in
den ersten Septembertagen. In der Kaserne war unsere 3. Reservedivision. Wir fuhren nach Warschau
und von dort nach Kowel. Wir fuhren in unseren eigenen Kleidern, wir hatten keine Waffen, wir rechne-
ten damit, dass wir in Kowel eingekleidet würden. Aber dazu kam es nicht. Dafür gab es in der Kaserne
viele Waffen. Wir gingen in die Stadt. Das waren die ersten Kriegstage und die Menschen plünderten die
Läden. Da war eine Trafik, ein Tabakwarenladen, da ging ich mit einem Kameraden hin. Wir kauften
Vorräte und nahmen etwas Tabak für die anderen mit. Als ich aus der Stadt zurückkam, traf ich die
Truppen nicht mehr an. Inzwischen war der Befehl zum Abmarsch nach Rumänien gekommen. Ich trieb
ein Pferd auf und holte meine Truppe ein. In der Nähe von Piaski bei Lublin hatten wir ein kleines Schar-
mützel mit den Deutschen. Der Kommandant unserer Einheit gab den Befehl, die Waffen loszuwerden.
Da war ein Teich, in den warfen wir die Waffen. Wir durften gehen, wohin wir wollten. Meine Kameraden
und ich beschlossen, nach Warschau zu gehen, um es zu verteidigen. Als wir dort ankamen, war schon
der 27. September. Hitler nahm in Warschau die Parade ab.» AMM, MSDP, OH/ZP1/770, Interview mit
Wacław Pilarski, Interviewerin : Katarzyna Madoń-Mitzner, Łódź, 26. 11. 2002.
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Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen