Seite - 130 - in Deportiert nach Mauthausen, Band 2
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130 | Piotr Filipkowski
Nummer oder der Häftlingskleidung, sondern die Person eines älteren Häftlings – ei-
nes Beschützers, Ratgebers, Lehrers, ja sogar eines Weisen. Er führt den Neuling in die
Lagerwelt ein und erklärt, wie sie funktioniert. Vor allem aber schützt er den Erzähler
vor dieser Welt, ermöglicht es ihm, in der normalen Welt zu bleiben und seine intellek-
tuelle Identität zu bewahren. Vermutlich ist deshalb die Erzählung über diesen Mann
wichtiger als die faktografische Beschreibung der Lagerrealität :
«In Dachau waren wir zunächst in Quarantäne, aber noch während der Quarantäne arbeite-
ten wir in einem Kommando, das für uns eine große Überraschung war. Man befahl uns in
einem gerodeten Wald Grassode und Schwarzerde abzutragen und auf einem riesigen Haufen
abzulagern. Ich arbeitete mit einem Schubkarren, ich musste mich sehr plagen. Eines Tages
[…] wurde ich ohnmächtig. Mein Blockältester, ein alter Kommunist, beschloss, mich von
der Arbeit mit dem Schubkarren zu retten, und schickte mich in die Küche. Und es fügte sich,
dass ich in der Küche mit einem sehr berühmten Schriftsteller der Vorkriegszeit, Gustaw
Morcinek36, zu arbeiten kam. […] Als Polnischlehrer hatte ich ihn zu Treffen mit meinen
Schülern in Pabianice und Słupca eingeladen. Ich rief mich ihm in Erinnerung und von da an
plauderten wir sehr nett miteinander beim Kartoffelschälen.»
«Eines war für mich verblüffend. Morcinek, der vor dem Krieg oft in Deutschland weilte, war
überzeugt, dass die Deutschen so wie über Polen auch über Frankreich siegen würden, mit
dem sie gerade Krieg führten. Er meinte, der Krieg könnte etwa fünf Jahre dauern […] Es
zeigte sich, dass er recht hatte, und ich glaube, in seinem Nachkriegsbuch Wieczory pod lipą
[Abende unter der Linde]37 hat er diese Aussage wiederholt.»38
Schon die ersten Lagererlebnisse erhalten hier einen besonderen kulturellen Kontext.
Sie gehen in die Literatur ein, werden zu ihrem Thema, zu ihrem Rohstoff. Aber es
gibt auch eine Hinwendung in die andere Richtung : die Literatur liefert Werkzeuge
zur Interpretation der aktuellen Ereignisse. Sie trägt zur Bewahrung der Hoffnung bei.
«Am 25. Mai wurden wir auf dem Appellplatz in Dachau versammelt. SS-Offiziere selektier-
ten uns aus. Alle Ausgewählten wurden nach Gusen geschickt. Ich erinnere mich an ein denk-
würdiges Vorkommnis. Als wir, die Ausgewählten, in den Block zurückkehrten, um unsere
Sachen für den Transport nach Mauthausen zusammenzupacken, sagte mein Blockältester,
36 Gustaw (Augustyn) Morcinek (1891–1963) war Lehrer, Journalist und Schriftsteller, von 1940 bis 1945
war er Häftling in Sachsenhausen und Dachau.
37 Hier unterläuft Dobosiewicz ein Fehler : Das Buch Wieczory pod lipą wurde 1845 von Lucjan Siemieński
veröffentlicht und war eine vielgelesene Geschichte Polens. Bei dem Buch von Morcinek dürfte es sich um
Listy spod Morwy (Sachsenhausen – Dachau) [Briefe, geschrieben unter einem Maulbeerbaum (Sachsen-
hausen – Dachau)] handeln, einen Erlebnisbericht über Morcineks Erfahrungen in den beiden Lagern,
veröffentlicht 1946 in Rom, polnische Ausgaben Katowice 1946 und Warschau 1957.
38 AMM, MSDP, OH/ZP1/075, Interview Dobosiewicz.
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Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen