Seite - 349 - in Deportiert nach Mauthausen, Band 2
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349«Sie
haben uns die ganze Zeit spazieren gefahren …» |
aus der lokalen Bevölkerung, sondern auch in den Kriegsgefangenenlagern. Letzteres
übernahm die Sicherheitspolizei, welche die Lager ohnehin nach Juden und Kommu-
nisten durchkämmte und dabei auch potenzielle Hilfskräfte suchen konnte. In vielen
Lagern wurde den Kriegsgefangenen angeboten, Militäreinheiten beizutreten, die nach
dem kollaborierenden Generalleutnant der Roten Armee Andrej Wlassow «Wlassow-
Armee» oder «Wlassowler» genannt wurden.31 Der 1942 in Kriegsgefangenschaft ge-
ratene Michail Rybtschinskij, der in fünf verschiedenen Kriegsgefangenenlagern war,
erlebte dies mehrfach :
«Nach Hammelburg ist Wlassow persönlich gekommen. […] Ja, also, Dings, und plötzlich
geht das To/, na
– das Tor auf : auf der Seite je zwei SSler, in der Mitte, in unserer [betont] Uni-
form, unserem Feldgürtel, unserer Feldmütze, nur war hier das Andreas-Zeichen – Wlassow,
Bojarskij und noch andere. […] Ja. Na, und er ist hereingekommen und sagt gleich : ‹Wer will
mit der Waffe in der Hand kämpfen gegen den Judenkommunismus ?› Das war seine Losung.
[…] In die Arbeitskommandos sind Wlassow-Leute gekommen, also die hatten eine deutsche
Uniform an und hier stand : ROA – Russische Befreiungsarmee [Russkaja oswoboditelnaja
armija]. Und die sind also gekommen, ich war da in der Porzellan- und Steingutfabrik, das
war auch, das war Karlsbad, so wie Hammelburg.»32
Den Kriegsgefangenen wurden nicht nur die Entlassung aus dem Kriegsgefangenenla-
ger und eine bessere Versorgung in Aussicht gestellt. Rybtschinskij erinnert sich : «Er
hat gesagt, dass die Russische Befreiungsdings, dass sich ein, also, Führer [im Original
deutsch] gefunden hat, der uns ein freies Leben ermöglichen wird.»33
Angesichts der katastrophalen Zustände in den Lagern mussten die Versprechen der
Anwerber verlockend klingen. Frank Golczewski weist darauf hin, dass die Entschei-
dung zur Kooperation angesichts der Todesrate in den Kriegsgefangenenlagern einer
«Entscheidung gegen einen nahezu sicheren Tod» gleichkam.34 Wenn die Verhältnisse
in der besetzten Ukraine auch weniger schlimm waren, bildeten die Versorgung und
der bessere Zugang zu Nahrungsmitteln und anderen knappen Gütern und damit die
Holocaust ; ders.: The «Local Police» in Nazi-Occupied Belarus and Ukraine as the «Ideal Type» of Colla-
boration : in Practice, in the Recollections of Its Members and in the Verdicts of the Courts, in : Joachim
Tauber (Hg.), «Kollaboration» in Nordosteuropa. Erscheinungsformen und Deutungen im 20. Jahrhun-
dert, Wiesbaden 2006, S. 414–433.
31 Vgl. dazu u. a. Catherine Andreyev : Vlasov and the Russian Liberation Movement. Soviet Reality and
Émigré Theories, Cambridge/New York 1987 (Soviet and East European Studies, 51) ; Andrej V. Martynov :
Po obe storony pravdy. Vlasovskoe dviženie i otečestvennaja kollaboracija [Auf beiden Seiten der Wahr-
heit. Die Wlassow-Bewegung und die einheimische Kollaboration], Moskva 2014 (Vsja pravda o vojne).
32 AMM, MSDP, OH/ZP1/604, Interview mit Michail Lwowitsch Rybtschinskij, Interviewer : Kirill Wasi-
lenko, Kiew, 19. 10. 2002, Übersetzung, Z. 690–732. Wladimir G. Bojarskij (1901–1945) war stellvertre-
tender Stabschef der Wlassow-Armee.
33 Ebd., Z. 772–774.
34 Golczewski, Kollaboration, S. 173.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen