Seite - 402 - in Deportiert nach Mauthausen, Band 2
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402 | Doris Felsen und Viviana Frenkel
schnappten und sie nach Deutschland brachten und sie arbeiten gingen, wir glaubten
so etwas nicht, man glaubte so etwas nicht … Dann kam es ein wenig plötzlich … am
16. Oktober.»71 Mario erinnert sich folgendermaßen an jenen tragischen Morgen :
«Am 16. Oktober um halb fünf in der Früh umzingelten sie den jüdischen Bezirk. […] Ich
hatte Glück, wo ich wohnte, hatte ich so einen kleinen Stollen, der zwei Häuser trennte, und
darunter war so was wie ein Keller. Also sind ich und mein Bruder hinuntergegangen. Aber
als wir hinuntergingen, haben die Frauen angefangen zu kreischen, sie sagten, dass sie die
Frauen wegbrachten, Alte, Kinder, alle zusammen. Also sind ich und mein Bruder hinaufge-
stiegen, ich habe meinen Vater genommen, meine Mutter und die drei Töchter meines Bru-
ders. Während ich meine Schwägerin retten wollte, die mit dem vierten Kind schwanger ging
[…], hörte ich, dass sie die Haustür eintraten. Also sagte meine Schwägerin : ‹Geh fort ! Geh !
Was machst du hier ? Pass auf die Kinder auf !› Wir stiegen hinunter, blieben ein paar Stunden
unten, dann sind wir wieder hinaufgegangen und es war niemand mehr da.»72
Mario entging mit dem Großteil seiner Familie der Verhaftung und den darauffolgen-
den Hausdurchsuchungen, indem er sich in einer Garage für einige Monate versteckt
hielt. Als er danach von Faschisten auf der Straße angehalten und auf die Polizeiwache
gebracht wurde, war ihm bewusst, dass sein Schicksal beschlossen war, aber er be-
wahrte die unverfrorene Art «eines Zwanzigjährigen», wie er es selbst definiert :
«‹Bist du Jude ?›Â
– ‹Jawohl, mein Herr, ich bin Jude, passt ihnen das vielleicht nicht ?›Â
– ‹Weißt
du, wo wir dich hinschicken ?› – ‹Sagen Sie mir das, ich weiß es doch nicht, Sie haben mich
gefangen, aber ich kenne den Grund nicht.› – ‹Wir schicken dich nach Deutschland, um zu
arbeiten !›Â
– ‹Na gut, schickt mich nach Deutschland !›Â
– ‹Hör zu, ich geb’ dir mein Ehrenwort,
dass ich dich freilasse, aber du musst eines tun […] sag mir, wo dein Vater ist, deine Mutter
und die drei Nichten […].› – ‹Hören Sie mir zu, ich glaube schon mal nichts, was Sie sagen,
weil ein Italiener, der einen anderen Italiener für fünftausend Lire pro Person ausliefert73, für
mich sind Sie ohne Ehre !› […] ‹Machen Sie was Sie wollen. Nehmen wir mal an, dass Sie Ihr
Wort halten, Sie würden mich gehen lassen, um sechs meiner Blutsverwandten zu schnap-
71 Am 16. Oktober 1943 wurden bei der ersten organisierten Razzia in Rom von einem Sonderkommando
der Polizei 1259 Juden verhaftet, von denen 1023 zwei Tage später nach Auschwitz-Birkenau gebracht
wurden. Nur 17 von ihnen überlebten. Circa 8500 italienische Juden, darunter auch jene aus dem Dode-
kanes, wurden insgesamt deportiert. Von knapp 6800 wurde die Identität festgestellt, während mindes-
tens tausend namenlos blieben. Der Großteil von ihnen wurde nach Auschwitz-Birkenau gebracht und
nur äußerst wenige kehrten zurück.
72 AMM, MSDP, OH/ZP1/015, Interview Limentani, Z. 25–38.
73 Die Denunziation war eines der Hauptinstrumente, durch die das Regime die Juden zunächst kontrollie-
ren und in der Folge verhaften und deportieren konnte. 1943 erhielten italienische Bürger eine Prämie
von 5000 Lire (was beinahe dem Jahresgehalt eines Fabrikarbeiters entsprach) für jeden der Gestapo
übermittelten Juden.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Band 2
- Titel
- Deportiert nach Mauthausen
- Band
- 2
- Autoren
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Herausgeber
- Melanie Dejnega
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Abmessungen
- 16.8 x 23.7 cm
- Seiten
- 716
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen