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(2020)Johanna
Rolshoven, Judith Laister | Die Straße — Ein Stadtraum in Bewegung
Der raumtheoretische Zugang einer komplexitätsorientierten Kulturanalyse setzt an einer
Trialektik der Straße an, um das Soziale, das Materiale und Ideale methodologisch für die
Stadtforschung fruchtbar zu machen.1 Er fokussiert die Interaktion von Lebenswelt, gebautem
Raum und gesellschaftlichem Raum der Repräsentationen, der Normen, Werte, kulturellen
Färbungen und Symboliken. Medien, welche die verschiedenen Facetten dieses dynamischen
Kulturraums repräsentieren, wie u.a. Filme, Lieder, Literatur, Bilder, aber auch Alltagserzäh-
lungen, politische Diskurse oder Werbemotive überformen als mediale und ideologisierte
Repräsentationen und Imaginarien Vorstellungen und Wahrnehmungen von Städter_innen,
Passant_innen, Bürger_innen und wirken in die individuellen Nutzungsformen und -mög-
lichkeiten hinein. Auf Straßen werden daher Werte performt, wie etwa Gemeinsinn (Hilfs-
bereitschaft, Nächstenliebe, Solidarität…), Sittlichkeit und Anstand, aber auch strukturelle
Ungleichheiten der Schichten und Geschlechter, die (in ihren historischen Tiefenschichten)
an Kleidung, Gangart, Mimik, Gestik wie auch an Hausfassaden, Stadtmöblierung oder Ord-
nungsdispositiven ablesbar sind.
Straßen sind Orte des Gesellschaftlichen. Kulturanalysen von Straßen, ihren Funktionen,
sozialen, infrastrukturellen und politischen Dimensionen setzen an dieser Komplexität der
Straße an. Sie erweisen sich als aufschlussreiche Bahnen, um Gesellschaft zu erforschen. Denn
auf den Straßen wird Gesellschaft greifbar: ihre Errungenschaften und Konflikte, ihre Werte
und Orientierungen, das Neue im steten Ringen mit dem Alten.
In den Fächern Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie gibt es eine – wenn auch
marginale – „Tradition“ der Gesellschaftserforschung anhand, auf und mit der Straße, von denen
einige hier angedeutet seien. Rudolf und Susanne Schenda haben in einer frühen Pionierarbeit
zu Beginn der 1960er Jahre in einer süditalienischen Stadt die Straße als Alltagsraum unter-
sucht, in dem Tradition und Moderne zugleich spürbar sind.2 Martin Scharfe hatte sich seit
den 1980er Jahren mit der „Frühzeit“ des Automobilismus auseinandergesetzt und – angelehnt
an die kulturtheoretischen Schriften Sigmund Freuds – mit aufschlussreichen Formen des Ver-
irrens.3 Zeitgleich und ebenso in einer historischen Perspektive hatte Willi Stubenvoll die Straße
als Handelsraum beleuchtet.4 In den 1990er Jahren wirkte in der Schweiz Walter Leimgruber
maßgeblich an der Aufarbeitung des Projekts „Kinder der Landstrasse“ mit, das zur gewaltsa-
men Sesshaftmachung der mobilen Bevölkerungsgruppe der Jenischen führte5: der nationalstaat-
lichen Kontrolle und „Abschaffung“ einer freien – vogelfreien – Straßenbevölkerung. Mit der
Straße als Subjekt der Geschichte haben sich Bernd Jürgen Warneken, aber auch Ove Sutter und
1 Vgl. Johanna Rolshoven: What about Cultural Studies in Architecture? In: Dies., Manfred Omahna (Hg.), Rezi-
proke Räume – Texte zu Kulturanthropologie und Architektur. Marburg 2013, 14-24.
2 Rudolf und Susanne Schenda: Eine sizilianische Straße. Volkskundliche Beobachtungen aus Monreale. Tübin-
gen 1965
3 Vgl. u.a. Martin Scharfe: Straße. Ein Grund-Riß. In: Zeitschrift für Volkskunde 79 Jg. (1983), 171-191.
4 Willi Stubenvoll: Die Straße. Geschichte und Gegenwart eines Handelsweges. Frankfurt/M. 1990.
5 Vgl. Walter Leimgruber, Thomas Meier, Roger Sablonier: Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse. Histo-
rische Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro Juventute im Schweizerischen Bundesarchiv. Schweizerisches
Bundesarchiv, Bern 1998; Information im Überblick: https://de.wikipedia.org/wiki/Kinder_der_Landstrasse
[17.2.2020]
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Mobile Culture Studies, Band 1/2020
The Journal
- Titel
- >mcs_lab>
- Untertitel
- Mobile Culture Studies
- Band
- 1/2020
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 108
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal