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Mobile Culture Studies | >mcs_lab> 1 (2020)
Valentino Filipovic | Gespräche im Gehen 19
individuellen Wahrnehmung gibt, die für die Akteur_innen ebenfalls Teil des Ortes geworden
ist – in manchen Fällen machen diese Wahrnehmungen für sie sogar den vordergründigen und
bedeutenderen Teil dieses Ortes aus.
Diese individuelle Wahrnehmung ist nicht immer offensichtlich, sondern äußert sich erst
in der Artikulation eines Menschen: „Was wir sehen, ist zweifellos eine Frage des Bemerkens
und nicht der Tatsachen.“ (Rolshoven 2017, S. 96) Mit meinen Gesprächen im Gehen konnte
ich Einblicke in die Mehrschichtigkeit und Bedeutung einzelner Orte für meine Interview-
partner_innen bekommen.
Die Methode und das Feld
Eingangs stellt sich die methodische Frage, wie ich als Forscher an den individuellen Erfah-
rungen, Erinnerungen und Erlebnissen teilhaben kann. Wie bewerkstellige ich es, diese indi-
viduelle Textur in der Stadt ans Licht zu befördern? Wie schaffe ich es, an den Gedanken und
Wahrnehmungen einer Person bezüglich der Stadt und ihren Orten Teil zu haben?
Wenn der Forscher Einblicke in die gelebte Erfahrung des Straßenraumes bekommen
möchte, dann muss er sich in diesem Straßenraum bewegen, denn „das Gesamtempfinden von
Eindrücken ist eine sinnliche Voraussetzung zum Verständnis von Alltagssituationen.“ (Ebd.,
S. 107) Dann entdeckt er die Erfahrungen und Narrative, die er möglicherweise in einem Inter-
view im Caféhaus nicht erfahren hätte. Denn das Gehen in der Stadt mit einer Person führt
dazu, dass ich als Forscher an der Wahrnehmung und der daraus resultierenden Artikulation
der Person über einen Ort/Straße, an der „Leiblichkeit des Denkens“ (König 1996 zit. n. ebd.,
S. 107) teilhaben kann. Das Gehen ist also eine „empirische Wahrnehmungstechnik und [ein]
ethnographisches Forschungsinstrument“, welches „‚Einblicke‘ in Aspekte des städtischen
Lebens“ gewährt, die sich „dem systematischen Forschungsblick unter Umständen entziehen.“
(Rolshoven 2001, S. 108)
Meine Gesprächspartner_innen, deren Erfahrungen ich hier kurz erläutern werde, sind
zwei Männer und eine Frau im Alter zwischen Mitte 20 und Mitte 30, alle wohnhaft in den
inneren Bezirken von Graz. Meine Auswahl traf ich nach einem entscheidenden Kriterium:
Alle sind in Graz aufgewachsen und leben heute noch bzw. wieder hier; sie betrachten Graz
als ihren Lebensmittelpunkt und als die Stadt, in die sie im Laufe ihres Lebens Erlebnisse und
Erfahrungen in den individuellen Stadtraum eingeschrieben haben. Es sind auch Personen,
mit denen ich privat schon anregende Gespräche hatte über ihre Stadtwahrnehmung und die
Bedingungen des urbanen Lebens. Ihre Reflexionen wollte ich neu aufgreifen und beim Gehen
durch die Stadt konkretisieren.
Diese Gespräche habe ich beim Gehen durch die Stadt mit einem Mikrofon aufgenommen.
Der Treffpunkt sowie die Route wurden von den Interviewpartner_innen selbst gewählt bzw.
bestimmt. Das führte im Verlauf der Spaziergänge dazu, dass wir an konkreten Orten vorbei-
gingen, welche für sie Assoziationen auslösten. Der Erzählimpuls meinerseits am Anfang der
Spaziergänge war die Frage: Was verbindest du mit Begegnungen auf der Straße? Dieser Erzähl-
impuls war nicht nur die Einleitung zu den Gesprächsthemen „Begegnung in der Stadt“ sowie
„Erinnerungen, Erfahrungen und Erlebnisse an den Orten einer Stadt“, sondern führte auch zu
Artikulationen meiner Interviewpartner_innen, zu Wahrnehmungen und Narrativen, welche
erst im Gehen mit mir zur Sprache kamen.
>mcs_lab>
Mobile Culture Studies, Band 1/2020
The Journal
- Titel
- >mcs_lab>
- Untertitel
- Mobile Culture Studies
- Band
- 1/2020
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 108
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal