Seite - 44 - in >mcs_lab> - Mobile Culture Studies, Band 1/2020
Bild der Seite - 44 -
Text der Seite - 44 -
44 Mobile Culture Studies | >mcs_lab> 1
(2020)Sabrina
Stranzl | “Your ignorance is more scandalous than my promiscuity”
„Ich schlendere an einem sonnigen Vormittag vom Hauptbahnhof Amsterdam in
mein Forschungsviertel, das Amsterdamer-Rotlichtviertel De Wallen. Da ich die-
sen Weg in den letzten drei Wochen fast tagtäglich gegangen bin, habe ich mei-
nen Blick auf dem Weg dahin nicht wirklich auf andere Menschen gerichtet, son-
dern bin ein wenig in Gedanken versunken. Als ich in die Molensteeg-Gasse einbiege,
in dieser kleinen Gasse sind die ersten Fenster des Rotlichtviertels, bemerke ich vor
mir drei Personen. Die nun folgenden Schilderungen von mir sind Zuschreibungen:
Ein erwachsener Mann um die 40, eine erwachsene Frau gegen Ende 30 und ein Kind
im Alter zwischen 10 und 12 Jahren, dem äußeren Anschein nach ein Junge. In meinem
Denken habe ich ihnen die Funktion einer Familie zugeschrieben. In der Molensteeg-Gasse
ist vormittags noch nichts los, in den Fenstern arbeitet noch niemand und es sind auch
keine Lichter eingeschaltet. Auf den ersten Blick ist daher nicht erkenntlich, wo man sich
befindet. Verlässt man diese Gasse, „öffnet“ sich das Viertel. Man steht an einem Kanal,
links und rechts Fenster, ein paar Cafés und Pubs, auf der einen Seite das Erotikmuseum,
auf der anderen Seite das Red Light Secret, ein Museum für Sexarbeit. Als die beiden
erwachsenen Personen ihre Umgebung bemerken, wendet sich die Frau dem Kind zu und
hält ihm die Augen zu. Frau und Mann beginnen zu diskutieren. Für mich ist das ziem-
lich spannend und interessant, also stelle ich mich an das Brückengeländer und beobachte
sie. Die Sprache, die sie sprechen, verstehe ich leider nicht, dennoch sind ihre Mimik und
Gestik sehr aufschlussreich. Nach ein paar gefühlten Minuten zückt der Mann sein Handy,
die Frau hält dem Kind immer noch mit ihren Händen die Augen zu. Der Mann benutzt
offensichtlich eine App zum Navigieren am Handy, er dreht es nach links, nach rechts,
nach vorne und drehte sich damit auch um. Dann dürfte er einen Weg gefunden haben.
Er geht voraus, die Frau hinterher, dabei dem Kind immer noch die Hände vor die Augen
haltend. Sie gehen an mir vorbei, über die Brücke. Hier kommt man direkt zur großen
kerk, einer Kirche, sie biegen bei dieser ein. Auf der einen Seite die Kirchenmauer, auf der
anderen Seite zuerst Fenster, dann eine Kindertagestätte, dann wieder Fenster, dazwischen
ein Radio sowie ein Plattenladen, dann wieder ein Fenster und dann kommt man zum
PIC (ein Prostitution Information Center) und daneben zu PROUD, einem Verband von
und für sexarbeitende Menschen. Hier, an der Kirche und zur Kirchenmauer hin gerichtet,
werden dem Kind die Hände vor den Augen entfernt. Der Mann geht voran, das Kind hin-
terher und die Frau daneben. Sie geht in seitlichen Schritten, macht sich breit und streckt
ihre Arme aus, die sich schützend vor dem Kind befinden. So verlassen sie an der Ecke zu
PROUD das Zentrum des Viertels.“1
Diese vorangestellte Beobachtung habe ich während meines ethnografischen Feldforschungs-
aufenthaltes in Amsterdam, im Sommer 2017, gemacht. Ich möchte sie hier nicht im Einzelnen
diskutieren, sondern als signifikantes Sinnbild in den Raum stellen, das mich in meinem The-
men- und Forschungsfeld über Sexarbeit begleitet hat.
Nach zweieinhalb Jahren Auseinandersetzung mit weiblicher Prostitution in Städten lässt
sich feststellen, dass in der bürgerlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts Sexarbeit und Sexarbei-
terinnen nicht im ‚schönen‘ Stadtbild sichtbar sein sollen, dass sie im öffentlichen Straßenraum
1 Tagebucheintrag, August 2017.
>mcs_lab>
Mobile Culture Studies, Band 1/2020
The Journal
- Titel
- >mcs_lab>
- Untertitel
- Mobile Culture Studies
- Band
- 1/2020
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 108
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal