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(2020)Hannah
Konrad | Critical Mass
Die Critical Mass und der motorisierte Individualverkehr in der Stadt
Der öffentliche Straßenraum zeichnet sich ohne Zweifel durch eine Dominanz des motorisier-
ten Individualverkehrs aus. Während Autos den Großteil des Straßenraumes für sich beanspru-
chen, werden andere Verkehrsteilnehmer*innen, wie Radfahrer*innen oder Fußgänger*innen,
an den Rand gedrängt, schließlich gilt es, den Autoverkehr keinesfalls zu behindern. Auto-
fahren ist ein wesentlicher Bestandteil unserer westeuropäischen Alltagskultur. Als Konsumgut
und nationales Identifikationssymbol ist das Auto in einer modernen kapitalistischen Gesell-
schaft nicht wegzudenken. Für die Fahrt zum Arbeitsplatz, für sonntägliche Ausflüge oder für
den Weg zum Supermarkt: Das Auto ist tief im Lebensstandard Jedermanns verankert und
die Straße soll ein möglichst reibungsloses Vorankommen mittels des motorisierten Vehikels
garantieren. Der Stadtplaner und Fahrradaktivist Joshua Switzky stellt fest, dass Straßen bis
zu 30% der Fläche einer Stadt und somit einen großen Teil des öffentlichen Raumes ausma-
chen.1 Obwohl diese Fläche vielseitig genutzt werden könnte, überlassen wir sie zugunsten eines
schnellstmöglichen Vorankommens von A nach B dem motorisierten Verkehr. Henri Lefebvre
spricht bereits 1970 pessimistisch von einer Invasion durch das Auto und stellt fest, dass der
Druck der Autolobby den Wagen zum Schlüsselobjekt werden lässt. Da alles hinter den Fragen
des Verkehrs zurückzustehen habe, so der französische Soziologe und Philosoph, werde soziales
und städtisches Leben zunehmend zerstört.2 Die Stadtplanerin Barbara Buchegger kritisiert in
ihrem Text „Tratsch nicht — gib Gas!“, dass die Straße nur noch mit Kfz-Verkehr assoziiert
werden könne und als Ort der Fortbewegung diene, während andere Funktionen, wie die Mög-
lichkeit zum Verweilen oder zur Kommunikation, in den Hintergrund gedrängt würden.3 Der
amerikanische Kulturwissenschaftler Zack Furness argumentiert, dass Straßen zwar Teil des
öffentlichen Raumes sind, ihre Konstruktion jedoch bestimmte Formen der Mobilität fordert,
andere hingegen hemmt: „By the nature of their technological exclusivity, roads/streets create
an extended matrix of motorized space that dominates cities throughout the western world.“4
Während wir, so Switzky, um jedes kleine Fleckchen unserer grünen Parks kämpfen, über-
sehen wir diesen riesigen verschwendeten öffentlichen Raum vor unseren Haustüren – dabei
betont er: „Streets could be our main stage.“5 Diesen Satz setzen die Teilnehmer*innen der Cri-
tical Mass einmal im Monat in die Tat um. Worum es sich bei solch einer Critical Mass – einer
kritischen Masse – genau handelt, ist nicht so leicht festzulegen. In der Regel treffen die Teil-
nehmer*innen der Critical Mass einander am letzten Freitag eines Monats, zu einem bestimm-
ten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort, um gemeinsam mit Fahrrädern so viel Straßen-
raum wie möglich einzunehmen. Dabei gibt es weder Verantwortliche oder Organisator*innen
noch wird eine behördliche Anmeldung wie bei einer Demonstration vorgenommen. Vielmehr
finden die gemeinsamen Radtouren offiziell zufällig, unhierarchisch und selbstorganisiert statt.
1 Vgl. Joshua Switzky: Riding to See. In: Chris Carlsson, Bicycling’s Defiant Celebration. Oakland, California
2002, S. 186-193, hier S.189.
2 Vgl. Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte. Frankfurt/Main 1990, S. 24-27.
3 Barbara Buchegger: Tratsch nicht – gib Gas! oder Der Kommunikationsort Straße. In: Eva Kail, Jutta Kleedorfer
(Hg.), Wem gehört der öffentliche Raum. Frauenalltag in der Stadt. Wien 1991, S. 61-63, hier S. 61.
4 Zach Furness: Critical Mass, Urban Space and Vélomobility. In: Mobilities 2 (2), 2007, S. 299-319, hier S. 303.
5 Joshua Switzky: Riding to See. In: Chris Carlsson, Bicycling’s Defiant Celebration. Oakland, California 2002,
S. 186-193, S. 189.
>mcs_lab>
Mobile Culture Studies, Band 1/2020
The Journal
- Titel
- >mcs_lab>
- Untertitel
- Mobile Culture Studies
- Band
- 1/2020
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 108
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal