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Mobile Culture Studies | >mcs_lab> 1 (2020)
Hannah Konrad | Critical Mass 75
Warum? Handelt es sich um Widerstand gegen die vorherrschende Automobilkultur, um Pro-
test für bessere Radfahrmöglichkeiten in der Stadt oder einfach nur um Spaß am gemeinsamen
Radfahren in der Gruppe? In Graz starten die Fahrten am letzten Freitag im Monat am Süd-
tirolerplatz. Sobald sich genug Personen eingefunden haben, wird losgefahren. Das Ziel wird
von den Radfahrer*innen an der Spitze der Critical Mass spontan entschieden, denn die Route
wird nicht im Vorfeld geplant.
Die erste Critical Mass fuhr 1992 durch die Straßen San Franciscos, 1994 war sie bereits
in dutzenden Städten Amerikas vertreten. Chris Carlsson betont, dass es sich dabei um keine
homogene Bewegung handelt und die Teilnehmer*innen ganz unterschiedliche Ansichten und
Missionen hätten.6 Die Idee, gemeinsame spontane Radfahrten durch San Francisco durchzu-
führen, entstand bei einem Treffen der San Francisco Bike Coalition. Berufspendler, die mit
dem Rad unterwegs waren, beschlossen, sich jeden Freitag zur Rush Hour zusammen zu tun.
Zu Beginn hieß diese Aktion „Commune Clot“ und hatte Verbindungen zur subkulturellen
Fahrradkurierkultur, die in den 1980ern und 1990ern florierte. Außerdem gab es immer wieder
Zusammenschlüsse mit politischen Protestveranstaltungen und Reclaim The Street-Parties –
Straßenparties zwischen Spaß und Protest, bei denen öffentlicher Raum angeeignet wird. Trotz
fehlender Organisationsstruktur zogen die monatlichen Zusammenkünfte zunächst fünfzig bis
sechzig, später hunderte und tausende Teilnehmer*innen an.7 Mittlerweile ist die Critical Mass
in nahezu jeder westlichen Großstadt vertreten.
Doch inwiefern verändert die Critical Mass durch ihre alternative Nutzung des Straßen-
raumes diesen zu einem Ort der Begegnung? In welcher Art und Weise findet die „Rückforde-
rung“ bzw. Aneignung des Straßenraumes statt? Welche Folgen hat dies? Wer macht mit und
aus welchen Gründen?
Im Gespräch mit den Akteur*innen der Critical Mass
Um mehr über die Critical Mass und die teilnehmenden Personen zu erfahren, habe ich im
Rahmen des Studienprojekts „Die Straße – ein Stadtraum in Bewegung“ sechs Interviews mit
Radfahrer*innen der Critical Mass in Graz geführt. Diese Personen lernte ich zwischen Mai
und September 2018 im Rahmen der teilnehmenden Beobachtungen auf dem Fahrrad kennen.
Dabei handelt es sich um: Den Fahrradboten Emil (29 Jahre), der aufgrund seines Berufes
wohl mehr Zeit als alle anderen auf der Straße verbringt und seit vier Jahren an Critical Mass-
Fahrten teilnimmt; die Studentin Laura (24 Jahre), die bislang einmal bei der Fahrradaktion
mitmachte und sich mit Geografie und nachhaltiger Stadtentwicklung beschäftigt; die Sozial-
arbeiterin Anna (27 Jahre), die findet, dass zu viele Regulierungen freies Denken und Handeln
einschränken und die bisher zweimal mitfuhr; die Umweltsystemwissenschaftlerin Emma (24
Jahre), die sich seit ihrem Bachelorstudium der nachhaltigen Gestaltung unserer Lebensräume
widmet und ebenfalls zweimal bei der Critical Mass dabei war; den Informatiker und Künstler
Alex (53 Jahre), der vor vielen Jahren sein Auto verkaufte, seit fünf Jahren die Critical Mass
unterstützt und in der Bewegung revolutionäres Potenzial sieht; und die Psychologie-Studentin
6 Chris Carlsson: Introduction. In: Ibid.: Bicycling’s Defiant Celebration. Oakland, California 2002, S. 5-9, hier
S. 6.
7 Vgl. Zach Furness: Critical Mass gegen die Automobilkultur. In: Jesús Ilundáin-Agurruza, Michael W. Austin
und Peter Reichenbach (Hg.), Die Philosophie des Radfahrens. Hamburg 2013, S. 89-105, hier S. 90.
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Mobile Culture Studies, Band 1/2020
The Journal
- Titel
- >mcs_lab>
- Untertitel
- Mobile Culture Studies
- Band
- 1/2020
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 108
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal