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Mobile Culture Studies | >mcs_lab> 1 (2020)
Christine Fürst | Die Wiener „Mahü“ rund um die Uhr 93
auf die Passantinnen und Passanten überzugreifen und bildet das diametral entgegengesetzte
Erscheinungsbild zu der zuvor beschriebenen hektischen Atmosphäre des wochentäglichen
Einkaufstrubels. Claudia, die Bewohnerin einer Nebenstraße, bestätigt den neuen Eindruck
von Urlaubsflair; als Anwohnerin störe sie allerdings jetzt die durch ihre Wohnstraße fahrende
Buslinie 13A.37
Bernd Jürgen Warnecken bezeichnet die Straße als Tribüne des Volkes. Auch diese Dimen-
sion scheint im Kaleidoskop der „Mahü“ auf: am späten Nachmittag oder Abend tritt die
Straße bisweilen als Ort des Protestes in Erscheinung, aber auch als Ort der Unterhaltung. So
konträr beide Situationen wirken mögen, haben sie doch eines gemeinsam: durch das Zusam-
mentreffen Gleichgesinnter verändert sich die Begegnungsebene in eine Veranstaltungsebene.38
In Anlehnung an Walter Siebel verwandeln Demonstrationen den öffentlichen Raum in einen
politischen Raum.39 Michel Foucaults Begriff der „Heterotopien“, hier angewandt auf diese
Arten der Straßenraumnutzung, lässt die Straße zu einem Raum werden, der die Normali-
tät des Alltags außer Kraft setzt und die Perspektiven verkehrt.40 Die junge Mutter Patrizia
wünscht sich eine durchgehende Fußgängerinnen- und Fußgängerzone mit gemütlichen Plät-
zen, wo man sich treffen und zusammensitzen kann, um Live Musik zu genießen, um dadurch
der Straße den Charakter einer Durchzugsstraße zu nehmen. Was ihr jedoch besonders fehle,
sei ein Kinderspielplatz.41
Mit dem letzten Blick durch das Kaleidoskop ist dieser Ort der Nacht gewidmet. Die Kultur-
anthropologin Ina-Maria Greverus verweist darauf, dass die Menschen in der heutigen Stadt sich
nicht mehr im öffentlichen Raum begegnen, verlieren, sich nicht anregen, sondern dass sie sich
abkapseln, mit Gleichgültigkeit reagieren, weitergehen, weil das Design der Städte, die gebaute
Umwelt und ihr „Design“ unserer Sozialität den Blick verstelle.42 Ein Akteur dieser Tageszeit
ist der Obdachlose, der mit seinem Hab und Gut auf einer Bank sein Nachtquartier findet und
sich unbeeindruckt von vorbeiziehenden Nachtschwärmern in seinen „Schlafraum“ zurückzieht.
Die Überwachung des öffentlichen Raumes nehme dem Raum die entscheidende Qualität der
Anonymität, in deren Schutz man andere Identitäten annehmen und neue Rollen ausprobieren
kann, postuliert Walter Siebel über die Bedeutung der Innenstadt aus soziologischer Sicht.43
Das Unsichtbare wird sichtbar
Was aber ist das Unsichtbare der Straße, wo kann eine Subjektivierung von nicht Sichtbarem
37 Begegnungszone: www.youtube.com/watch?v=T_REmj_tD-g (Zugriff 15.09.2018).
38 Vgl. Daniel Blumer, Pia Tschannen: Machtkampf ums Quartier – das Berner ‚Nodquartier‘: In: Angela Stienen
(Hg.), Integrationsmaschine Stadt? Interkulturelle Beziehungsdynamiken am Beispiel von Bern. Bern 2006, S.
361-370, hier S. 361.
39 Vgl. Walter Siebel: Die Bedeutung der Innenstadt aus soziologischer Sicht. In: Deutsche Akademie für Städ-te-
bau und Landesplanung (Hg.), Die Zukunft der Innenstadt. Almanach 2011/2012. Berlin 2012, S. 45-52, hier
S. 49.
40 Vgl. Kirsten Salein: Andere Räume. Ein Spaziergang. In: Ina-Maria Greverus, Johannes Moser, Kirsten Salein
(Hg.), STADTgedanken aus und über Frankfurt am Main. Frankfurt am Main 1994, S. 93-100, hier S. 96.
41 Vgl. Interview Patrizia, Sales Managerin, am 21.10.2018 in Wien.
42 Vgl. Ina Maria Greverus: Was sucht der Anthropologe in der Stadt? Eine Collage. In: Dies., J. Moser, K. Salein
(Hg.), STADTgedanken, S. 23.
43 Vgl. W. Siebel: Keynote I., S. 49.
>mcs_lab>
Mobile Culture Studies, Band 1/2020
The Journal
- Titel
- >mcs_lab>
- Untertitel
- Mobile Culture Studies
- Band
- 1/2020
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 108
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal