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Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Joachim Schlör | Die Schiffsreise als Übergangserfahrung in Migrationsprozessen 13
Boden wurde ihnen unter den füßen weggezogen und ihre Namen gelöscht von der Tafel
der Börsenmakler, Rechtsanwälte und Kaufleute.“ 11
Was bedeutete ihnen die Reise? Welche Gedanken gingen ihnen durch den Kopf, in diesem
Zwischenort und dieser Zwischenzeit, da sie nicht mehr „dort” und noch nicht „hier” waren?
Bei aller Unterschiedlichkeit der Erfahrungen und der hoffnungen gilt wohl grundsätzlich –
und das ist der zentrale Ansatzpunkt für dieses ganze Journal –, was David Jünger in seinem
Beitrag in diesem Band so auf den Punkt bringt:
„In der Konstellation der Überfahrt vom nationalsozialistischen Deutschland ins britische
Mandatsgebiet Palästina (und ins künftige Israel) verschränkten sich derart viele Über-
gangsprozesse, dass sich die Reisenden einer tieferen Reflexion über deren Bedeutung kaum
entziehen konnten. Die Schiffsreise schien in einem Zwischenraum und einer Zwischenzeit
zu liegen: zwischen individueller sowie jüdisch-kollektiver Vergangenheit und Zukunft,
zwischen Europa und Asien, zwischen Okzident und Orient, zwischen Liberalismus und
Nationalismus, zwischen gestern und morgen. Die Schiffspassage als solche war dabei die
Übergangserfahrung in Reinform, die die Reisenden in den Bann der Reflexion schlug.”
Was dabei geschah, hat Manès Sperber in einem anderen Zusammenhang in das Bild einer
Brücke gefasst, die errichtet wird, ohne dass ihre Erbauer das andere Ufer schon kennen.12
Dieses schöne Bild wird in den Dokumenten konkret. Martin hauser schreibt in seinen „Tage-
büchern eines deutschen Juden”, denen er den Titel Auf dem Heimweg gegeben hat:
„21. Mai 1933. […] Inzwischen haben wir die schneebedeckten Berge überquert, sind vorbei an
Lugano, mit kurzer Unterbrechung zum Spaziergang am See entlang, und es geht jetzt weiter
über Mailand und Venedig nach Triest. Dort wartet das Schiff!
24. Mai 1933: Ein Liegestuhl am Ende des Zwischendecks, über mir der hellblaue him-
mel, darunter das dunkelblaue Meer, dessen Wellen vom Schiff durchschnitten werden, um
11 Tergit, Gabriele. 1996. ‘Überfahrt 1933’, in Im Schnellzug nach Haifa. Mit fotos aus dem Archiv Abraham Pisarek
Mit einem Vorwort von Jens Brüning und einem Nachwort von Joachim Schlör (Berlin: Transit) pp. 11-15, hier p.
12.
12 Im Kapitel „Auf der Brücke“ des zweiten Bandes der Erinnerungstrilogie „All das Vergangene“ entwirft Sperber
eine Allegorie des hoffnungsvollen Menschen, die er häufig in Romanen, Vorträgen und Essays benutzte. Dabei
handelt es sich um das zentrale Symbol einer Brücke, die nicht existiert, sondern sich Stück um Stück unter dem
Schritte dessen ausbreitet, der den Mut aufbringt, seinen fuß über den Abgrund zu setzen. “Der werdende, doch
nie vollendete Mensch auf der Brücke, die nur so weit reicht wie sein Mut, somit nie weit genug, ist der held
und Unheld all meiner Bücher geworden.” (Manès Sperber, Die vergebliche Warnung. Wien: Europaverlag 1975,
S. 13. Vgl. dazu Licharz, Werner, Leo Kauffeldt und hans-Rudolf Schiesser (hrsg.).1988. Die Herausforderung
Manès Sperber. Ein treuer Ketzer auf der Brücke ohne anderes Ufer (frankfurt am Main: haag und herchen)
Arnoldshainer Texte; Bd. 50.)
1983 wurde Manès Sperber der friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. In der Begründung der Jury
heißt es: „Den friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahre 1983 Manès Sperber,
dem Schriftsteller, der den Weg durch die ideologischen Verirrungen des Jahrhunderst mitgegangen ist und sich
von ihnen befreite. Er hat sein Leben lang die Unabhängigkeit seinen eigenen Urteils bewahrt und, unfähig zur
Gleichgültigkeit, den Mut aufgebracht, jene nicht existente Brücke zu betreten, die sich nur vor dem ausbreitet,
der seinen fuß über den Abgrund setzt. Wir ehren Manès Sperber in Dankbarkeit.“ <http://www.friedenspreis-
des-deutschen-buchhandels.de/445722/?aid=537266> [accessed 02.06. 2015]; die Zuschreibung „ukrainischer
Schriftsteller“ auf der Webseite des Verbandes könnte bei Gelegenheit geändert werden!
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 1/2015
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 1/2015
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 216
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal