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14 Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Joachim Schlör | Die Schiffsreise als Übergangserfahrung in Migrationsprozessen
mich herum eine ›Masse Mensch‹. Wer kennt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier
zusammenkamen? chaluzim mit Rucksack, kurzen hosen, offenen hemden, chassidim in
schwarzen Anzügen mit Käppchen und Schläfenlocken, Mittelstandseinwanderer mit fami-
lien, richtige Touristen aus westeuropäischen Ländern und auch solche, die mit den berüh-
mten 50 englischen Pfunden die Türen ohne Visum aufmachen wollen – Alte und Junge,
Sephardim und Ashkenasim, dieses Mal mit sehr hohem Prozentsatz an flĂĽchtlingen aus
Deutschland. flĂĽchtlinge! Wo sind die Eltern? Bruder?
29. Mai 1933: 5.45 Uhr früh – am horizont nähert sich die Küste und wachsen die Umrisse
der häuser von Jaffa. Trubel, hin- und herjagen nach Gepäck und den Beamten der
Einwanderungsbehörde, um das Schiff ein haufen kleiner Boote. Arabische Worte fliegen
vom Schiff hinunter und herauf, Pfeifen tönen, Sirenen heulen. Lastträger in verstaubten
und verschwitzten Blusen und hosen, die als Säcke um die Beine hängen, klettern an Strik-
ken aufs Deck, die fĂĽĂźe in vertretenen und verdreckten alten Schuhen in allen farben.
Schwarze Augen schauen unter den Tüchern und fetzen hervor, die in allen möglichen und
unmöglichen formen um den Kopf gewickelt sind; ehe man sich umsieht, ist der Koffer
weg, befindet man sich im Arm eines solchen Burschen und wird ins schaukelnde Boot
geschafft.” 13
Während manche der Reisenden, selbst in den frühen Jahren nach 1933, die Reise als Ausdruck
ihrer Verlorenheit (und der damit verbundenen Verluste, auch von Eigentum) beschreiben, fan-
den sich andere Einwanderer unversehens in einer Welt des Luxus und der schönen Reise wie-
der. Margarete Sallis buchte ihre „Palästina-Reise auf Mitte März 1934, Rückreise am 15. Mai”.
In ihren Erinnerungen schreibt sie:
„Die hell erleuchtete ›Aquitania‹, einer der größten und luxuriösesten Dampfer der dama-
ligen Zeit, stand weit draußen im hafen von Ville france, als wir bei strömendem Regen
und hoher See hinübergerudert wurden und sozusagen direkt in Tanzmusik und Ballsäle
gerieten, in denen sich die elegantesten amerikanischen Paare drehten. Es sah ganz und gar
nicht nach Auswanderung aus. Erst dann wurde mir klar, daß dies ja ein ›Mediterranean
World cruise‹ war, die Aquitania kam aus Amerika und fuhr nun über Athen, Istanbul
und Rhodos nach haifa. Ich hatte Touristenklasse, aber auch diese war so komfortabel
und luxuriös wie sonst eine 1. Klasse. Als das Schiff am 15. März um Mitternacht die Anker
lichtete, hatte ich im halbschlaf in meiner winzigen Innenkabine das deutliche GefĂĽhl des
Beglücktseins, dem alten Europa entronnen zu sein.” 14
13 hauser, Martin. 1976. Auf dem Heimweg. Aus den TagebĂĽchern eines deutschen Juden 1929-1945 (Bonn-Bad
Godesberg: hohwacht Verlag), pp. 55f.
14 Sallis, Margarete. 1975. Meine beiden 40 Jahre. Nathanya 1975. Ms, Leo Baeck Institute New York, Memoir coll-
ection, ME 550. Im Manuskript liegt ein handgeschriebener Zettel: “In Palästina zählen die Jahre doppelt.” frau
Sallis wurde 1894 in Speyer geboren, besuchte die Schule in frankfurt, studierte in Berlin. Nach dem Tod ihres
Mannes nahm die junge Mutter ein Soziologie-Studium in frankfurt auf. Nach dem ersten Palästina-Besuch
1934 wanderte sie im Sommer des gleichen Jahres ein, versuchte sich in der Organisation von Reisen, arbeitete
dann als Englisch-Korrespondentin für die „Shell“-Vertretung.
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 1/2015
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 1/2015
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 216
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal