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Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Sabine August | Schweizer auf dem Weg nach Amerika 101
Van Gennep zählt zu den räumli-
chen Übergängen das Überschreiten
von Landes-, Provinz- und Landgüter-
grenzen. Dabei würde der Ozean die
nach van Gennep benannte „neutrale
Zone“ bzw. das „Niemandsland“ dar-
stellen, eine Region, die nicht von Men-
schen bewohnt wird, in der sie sich aber
gleichermaßen aufhalten können. Wer
sich von der einen Sphäre in die andere
begibt, befindet sich eine Zeitlang
sowohl räumlich als auch sozial in einer
besonderen Situation, schwebt zwischen
zwei Welten. Es kommt dabei immer zu
Grenzüberschreitungen, dem Übergang
von einem Seinszustand in einen ande-
ren. Dabei „stirbt“ der „Grenzgänger“
in der alten Welt, erfährt einen Seins-
wechsel und wird dann in der neuen
Welt „wiedergeboren“. In traditionellen
Gesellschaften wird diese räumliche
und soziale Transitionsphase durch
Zeremonien begleitet.
Meinen Ausführungen zufolge ist
die Atlantiküberquerung mit all ihren
Aspekten ohne Zweifel eine Übergangs-
situation. Doch mir scheint, dass der
Übergang ein Konstrukt darstellt. Die
Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten sowohl unterwegs als auch an Bord des Schiffes
holte die Ausgewanderten schnell ein. Dabei stand der „Überlebenskampf“ im Mittelpunkt.
Dass dabei kaum Zeit und Muße blieb, sich über die Vergangenheit und den unbestimm-
ten Ausgang des zukünftigen Lebens Gedanken zu machen, wird durch viele Zitate evident.
Der anonyme Briefeschreiber von 1848 bringt es auf den Punkt: „Sind doch meine Briefe jetzt
nicht Produkte der Muße und des ruhigen Nachdenkens, sondern, bis wir eine zweite hei-
math gefunden haben werden, nur Skizzen aus unserm langen Wanderleben.“ (anonym 1848,
in Schelbert & Rappolt 2009: 208)
Man kann den Übergang als solchen nicht in der Gegenwart, im hier und Jetzt erleben,
sondern nur im Nachhinein rekonstruieren. Meines Erachtens ist es eher möglich, ihn wäh-
rend der Reisevorbereitungen und beim Abschied zu empfinden sowie später, wenn ein neuer
Seinszustand oder die Identitätsstabilisierung erreicht ist. Diese Momente des Philosophierens
und der eigenen Standortbestimmung waren jedoch auf der Überfahrt kaum gegeben. Die fast
ununterbrochene und erzwungene Auseinandersetzung mit den konkreten herausforderungen
an Bord ließen keine Muße zu, den Befindlichkeiten hinsichtlich des momentanen Übergangs
Abb. 4. Aus der Sonderausstellung „Von Not und
Freiheit – Appenzeller Auswanderung“ (2013) im
Appenzeller Volkskunde-Museum Stein.
Bild: Sabine August
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 1/2015
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 1/2015
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 216
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal