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Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Elisabeth Janik | Reiseerfahrungen polnischer MigrantInnen 109
nicht existierte, zum Zeitpunkt des Preisausschreibens jedoch ein souveräner aufstrebender jun-
ger Staat in Mitteleuropa war. Die Aussagen der Autorinnen und Autoren waren demnach
durch einen polnisch-nationalen Diskurs strukturiert und müssen vor diesem hintergrund
auch analysiert werden. Die meisten von ihnen fühlten sich nicht nur durch ihre Sprache, dem
Polnischen, vereint, sondern sahen sich alle gleichermaßen zu einer polnischen Ethnie zugehö-
rig, die umso bedeutender während der nicht Existenz des Polnischen Staates war.
Ich gehe von der These aus, dass für viele Auswandererinnen und Auswanderer das Schiff
zu einem Ort wurde, auf dem sie ihren Emotionen im besonderen Maße ausgesetzt waren und
der sie zu Reflexionen über ihre eigene Situation anregte. Dies resultierte nicht nur aus der all-
gemeinen Situation an Bord, sondern auch aus dem Umstand, dass sie während der Überfahrt
größtenteils zur Untätigkeit gezwungen waren. Der Ansatz von Erving Goffman, das Schiff
als „totale“ und in sich geschlossene Institution zu betrachten, stützt diese These. für Goff-
man (1972, 16ff.) zählte das Schiff zu den so genannten „totalen Institutionen“, die durch ein
festgeschriebenes Regelwerk sowie festgesetzte hierarchische Strukturen funktionierten. Dies
förderte im Besonderen ihren abgeschlossenen charakter. Ähnliche Ausführungen über andere
Transportmittel kommen kaum in den Erinnerungen vor.
Um die Pamiętniki als historische Quelle verstehen zu können, ist ein Blick auf ihre Ent-
stehungsbedingungen und das Instytut Gospodarstwa Społecznego unabdingbar. Bevor ich
jedoch genauer darauf eingehe, folgt zunächst ein kursorischer Überblick über die historischen
Voraussetzungen und Bedingungen der Migration aus den geteilten polnischen Gebieten. Im
Anschluss diskutiere ich das Schiff als Transportmittel im Kontext der Auswanderung und
gehe im nächsten Schritt auf die Quellen ein. Dem schließt sich die Analyse der Pamiętniki an.
Der Weg in die Amerikas
Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wanderten knapp 3,1 Millionen Menschen aus
Österreich-Ungarn, Preußen, dem Russischen Reich und Rumänien in die beiden Amerikas
aus. (faßmann 1994; s.a. Walaszek 1995 und Nugent 1992) Die transatlantische Auswanderung
setzte in Osteuropa in den 1870er Jahren ein und bereits in kürzester Zeit stiegen die Auswan-
derungszahlen rasch an, sodass in diesem Zusammenhang von einer Massenauswanderung
gesprochen werden muss. für die Reedereien bedeutete diese Entwicklung ein gutes Geschäft.
(Gelberg 1975, Just et al. 1992)
Neben den USA und Kanada erfreuten sich auch Brasilien und Argentinien als Ziele der
Auswanderung großer Beliebtheit. Die südamerikanischen Staaten verfolgten im ausgehenden
19. Jahrhundert eine, wie Nugent (1992), Mazurek (2006, 54ff.), Alroey (2011) und Brinkmann
(2013) berichten, betont einwandererfreundliche Politik. Unter der Devise gobernar es poblar
(„regieren heißt bevölkern“) förderte insbesondere die argentinische Regierung die Einwande-
rung aus Europa; dieser Slogan entstammt der programmatischen Schrift Bases y puntos de
partida para la organización política de la República Argentina von Juan Bautista Alberdi,
eine bereits 1853 entstandene, die argentinische Politik prägende Schrift. Ziel der Regierung
war es, das Land mit hilfe der europäischen Einwanderinnen und Einwanderer wirtschaftlich
und kulturell wettbewerbsfähig zu machen und so die eigene Wirtschaft zu fördern. Auch
die brasilianische Regierung bot den europäischen Einwanderinnen und Einwanderern güns-
tige Bedingungen für ihre Ansiedlung. Sie lockte mit günstigem oder gar kostenlosem Boden
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 1/2015
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 1/2015
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 216
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal