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Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Elisabeth Janik | Reiseerfahrungen polnischer MigrantInnen 111
So stand der Kapitän an der Spitze der hierarchiekette. Ihm waren die Schiffsoffiziere, die
Schiffsmannschaft sowie die weiteren Mitglieder der Schiffsbesatzung unterstellt. Die Pas-
sagiere an Bord waren ebenfalls hierarchisch aufgeteilt, nämlich in bis zu drei Klassen. Die
zeitgenössischen gesellschaftlichen und sozialen Differenzierungen wurden so auf das Schiff
übertragen. Diese soziale Ordnung spiegelte sich in der vertikalen Struktur des Schiffes selbst
wieder: Die oberen Decks beherbergten ausschließlich Passagiere der ersten und zweiten Klasse.
für die Reisenden der unteren Klassen, meist Migrantinnen und Migranten, blieb lediglich das
Zwischendeck. Die Umstände der Überfahrt waren insbesondere für die unteren Klassen nicht
angenehm, denn viel Platz auf dem Zwischendeck gab es nicht und auch die dortige hygieni-
sche und sanitäre Versorgung war für die Anzahl der Passagiere und die Dauer der Überfahrt
nicht ausreichend. Ansteckende Krankheiten waren die folge. In seiner Gesamtheit war das
Schiff ein klar hierarchisch strukturierter Raum, der zudem durch die Umstände der Reise
in sich geschlossen war. Zu einem Austausch zwischen den Passagierklassen kam es kaum, da
diese klar räumlich voneinander getrennt waren. Diese dezidiert räumliche Trennung stellte
zugleich auch eine soziale Trennung dar.
für den amerikanischen Soziologen Erving Goffman (1972) zählt das Schiff neben Kaser-
nen, Internaten, Arbeitslagern und kolonialen Stützpunkten zur Kategorie der „totalen Institu-
tion“. Bei diesen handelt es sich um in sich geschlossene und nach ihren eigenen Regeln funkti-
onierende Räume. Der gesamte Apparat zielt vollständig auf das funktionieren bis ins kleineste
Detail ab. Zudem gibt es auch in den angeführten Beispielen eine klare hierarchische Staffelung
der „Insassen“. Jeder dieser „Insassen“ hat den Befehlen und Regeln der Institutionen folge zu
leisten. Auch die Passagiere des Zwischendecks waren den Regeln und Repressalien einer „tota-
len Institution“ im besonderen Maße ausgeliefert. Allein die Tatsache, dass sie sich innerhalb
des Schiffes nur in den für sie vorgesehenen Decks aufhalten durften, unterstreicht dies. Auch
wenn die Auswanderinnen und Auswanderer ihre Erinnerungen über ihre Erlebnisse, Gefühle
und Ängste in der Retrospektive reflektiert darstellten, so waren sie doch durch die spezifische
räumliche Situation geprägt. Die Vermutung liegt nahe, dass sowohl die räumliche Begrenzung
des Schiffes als auch die Dauer der Überfahrt Einfluss auf die Reiseerfahrungen der Auswan-
dernden hatten.
Die Überfahrt stellte einen emotionalen Ausnahmezustand her. Während der Überfahrt
war den Migrantinnen und Migranten sprichwörtlich der feste Boden unter den füßen ent-
zogen. Diese Ausnahmesituation wurde dadurch verstärkt, dass es sich bei der Überfahrt um
einen der letzten Abschnitte des Auswanderungsprozesses vor der endgültigen Ankunft han-
delte. Zudem bildete die Überfahrt auch den aufregendsten Teil der Auswanderung. Die Tat-
sache, auf hoher See zu sein und für mehrere Tage kein Land in Sichtweite zu haben, mag für
die meisten eine ungewöhnliche und vielleicht auch spannende Situation gewesen sein. für
einige der Auswanderinnen und Auswanderer bot die Zeit der Überfahrt zudem auch die Mög-
lichkeit, sich von den bisherigen Strapazen der Reise zu erholen und über die eigene Situation
nachzudenken. Dies traf nur auf die Passagiere der oberen Decks zu. Die Bedingungen für die
Zwischendeckspassgieren waren allzu oft miserabel und ließen kaum eine Erholung zu.
Die Masse der Auswandererinnen und Auswanderern aus Osteuropa legt die Vermutung
nahe, dass diese auch eine entsprechende Masse an Selbstzeugnissen über den Auswanderungs-
prozess hinterlassen haben. Jedoch gibt es für den gewählten Untersuchungszeitraum wenig
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 1/2015
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 1/2015
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 216
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal