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116 Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Elisabeth Janik | Reiseerfahrungen polnischer MigrantInnen
niemals dem österreichischen Militär dienen würden. (IGS 1939, 30) In seinen Erinnerungen
ist genau vermerkt, an welchem Tag und um wie viel Uhr er und seine Arbeitskollegen sich zur
Auswanderung entschieden. Am 20. Mai 1902 um 10:30 Uhr machten sie sich gemeinsam auf
den Weg nach Südamerika.
Die nötigen Informationen über die Auswanderungsroute und weitere hilfreiche hinweise
bekamen sie von einem Agenten in Stanislau, dem heutigen Ivano-frankivs‘k. Über Buda-
pest und Udine erreichten sie schließlich die hafenstadt Genua. Dort, so berichtete der Autor,
würden knapp 250 Auswanderinnen und Auswanderer auf ihre Weiterfahrt nach Südamerika
warten. (IGS 1939, 31) Erst einige Tage nach der Ankunft in Genua konnte die Reise fortgesetzt
werden. In den Erinnerungen ist zu lesen: „[…] am 28. Mai 1902 um 9 Uhr 30 Minuten verließ
ich den hafen von Genua und somit auch meine geliebte polnische Erde unter österreichischer
herrschaft“. (IGS 1939, 31)
für den Verfasser dieser Erinnerungen stellte das Auslaufen des Schiffes den Moment eines
endgültigen und sehr bewegenden Abschieds dar. Das Verlassen des hafens setzte er mit dem
Verlassen seiner polnischen heimat gleich. Die Stadt Genua führte er hier als Verlängerung
dieser an. Seine Unzufriedenheit und seine Wut gegenüber der österreichischen Teilungsmacht
betonte er mit der dezidierten Verweigerung des österreichischen Wehrdiensts. Darüber hin-
aus gab er der Leserschaft deutlich zu verstehen, dass sein „geliebtes Polen“ unter österreichi-
scher herrschaft stand. Betrachtet man diese Aussage im Kontext der Entstehungszeit der
Pamiętniki, so ließe sich auch die Vermutung aufstellen, dass diese Äußerung auch einen
patriotischen Unterton besaß. Dieser kam auch daher zustande, dass sie ihre Erinnerungen in
einen neuen polnischen Staat schickten, den es bei ihrer Auswanderung noch nicht gab. Solche
Äußerungen stellten ihre Zugehörigkeit zum „Polentum“ ganz besonders unter Beweis.
In seinen weiteren Schilderungen ging er detailliert auf die Umstände der Überfahrt ein.
Einen wesentlichen Aspekt dabei nahm die Beschreibung des Unwetters ein:
„Traurig erinnere ich mich an die Ausfahrt aus Genua, da am zweiten Tag auf dem offenen
Meer sich ein Sturm über uns zusammenbraute, der das ganze Schiff zum schwanken
brachte. Die Menschen auf dem Schiff waren so eine fahrt nicht gewöhnt, sie weinten
und beklagten ihr schlechtes Schicksal, aber das war nichts im Vergleich, was am 2. Juni
geschah, ein starkes Gewitter zog auf, das das Schiff schaukelte wie eine feder und es schien
als würden wir alle bald auf den Meeresgrund sinken. Was war das für Klagen, was für ein
Weinen, es waren, so wie ich vorher schrieb, 250 Menschen, Männer und Kinder, die auf
dem Schiff fuhren […].“ (IGS 1939, 31)
Der Autor schilderte in dramatischer Weise die Auswirkungen des Sturms auf die Zwischen-
deckpassagiere. Die ungewohnte und abgeschlossene Umgebung des Schiffes schürte ihre
Ängste und die furcht vor einem möglichen Untergang. Besonders hervorstechend sind hier
seine Äußerungen über das Leid der Menschen an Bord, die bei der Leserschaft auch direktes
Mitgefühl erwecken. In diesem Zusammenhang ging er erneut auf die Masse an Menschen
ein, die sich auf dem Zwischendeck aneinander drängten. Die Darstellung der Überfahrt wird
durch seine Beschreibungen über die Reise- und Lebensverhältnisse an Bord erweitert. So
berichtet er, wie er darunter litt, als er sah, wie die Menschen auf dem Schiff lebten:
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 1/2015
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 1/2015
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 216
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal