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Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Elisabeth Janik | Reiseerfahrungen polnischer MigrantInnen 119
„Oh welch ein Wunder! Irgendein Gefühl umgab mich wegen dem entschiedenen Ziel
der Ansiedlung hinter dem Ozean… die bisher passierten fremden Küsten und Städte,
erschienen mir plötzlich bekannt und dem herzen nahe, vielleicht deswegen, weil sie zu
einer geografischen Einheit gehören, auf welcher auch unser Vaterland verblieb – Polen! […]
Mit dem Sonnenuntergang verließen wir Lissabon und fuhren hinaus auf den Ozean, der
uns trennen soll wie ein breiter Staudamm, wer weiß, vielleicht für immer? Es ist dunkel
geworden, das Schiff entfernt sich. Auf den felsigen Bergen reflektieren sich die Lichter des
Leuchtturms und sendeten uns ein letztes „adieu“ Europa… Es umgibt mich eine seltsame
Rührungen, ich laufe längs auf dem Deck, dann verstecke ich mich zwischen den Seilen
am Ende des Schiffes und gebe den Tränen freien Lauf, so verabschiedete ich die letzten
Lichtstrahlen des Leuchtturms am Ufer der alten Welt.“ (IGS 1939, 113)
Der Abschied von der „alten Welt“ wird hier sehr bewegend und emotional dargestellt. Der
Autor nahm die zunehmende Entfernung des Schiffes zur Küste als ein besonderes Ereignis
auf, denn das Verlassen des europäischen Kontinents war für ihn zugleich auch der endgültige
Abschied von seinem „Vaterland“. In diesem Zusammenhang reflektierte er über seine Ent-
scheidung, auszuwandern und seine gegenwärtige Situation. Besonders pathetisch erscheinen
seine Äußerungen über den Ozean, der ihn von seiner heimat für immer trennen wird.
Ähnlich wie in dem vorhergehenden Beispiel wurde eine europäische Stadt zum Stellver-
treter seiner heimat. Nicht nur Lissabon erweckte heimatliche Gefühle in ihm, sondern auch
weitere europäische Küstenstädte. Auch wenn er keine dieser Städte zuvor besucht hatte, so
erschienen sie ihm jedoch irgendwie bekannt, aus dem Grund, dass sie zu Europa gehörten. für
ihn zählten die polnischen Teilungsgebiete zur geographischen Einheit Europas, somit war sein
Zuhause ein Zuhause in Europa. für ihn konstruierte dieses Europa eine gemeinsame europä-
ische Geschichte von der er ein Teil gewesen war.
Diese Äußerungen mögen aber auch dadurch zustande gekommen sein, dass er sie einige
Jahre später nach seiner Ankunft in Brasilien verfasste und auf ein Europa blickte, das für ihn
aus seiner gegenwärtigen Position als eine friedliche Einheit erschien. Das Schreiben aus der
Retrospektive läuft Gefahr, Ereignisse und Erlebnisse zu verklären.
Darüber hinaus zeugen seine Ausführungen über das Verlassen Europas, auch von Angst
und Ungewissheit. Ängste vor dem, was sein wird und die Trauer, sein Zuhause für immer
verlassen zu haben, waren Emotionen, die nicht nur den Autor dieser Erinnerungen beweg-
ten, sondern auch bei weiteren Autoren der Pamiętniki zu finden sind. Auch wenn derartige
Gedanken bereits mit der Entscheidung, auszuwandern, bei den Auswanderinnen und Aus-
wanderer präsent waren, so äußerten sie sich in diesem Beispiel jedoch erst auf dem Schiff, also
während der Überfahrt.
Das Schiff wurde zum Ort eines Sich-Bewusstmachens der gegenwärtigen Situation.
Bereits beim Besteigen des Schiffes war den Auswanderinnen und Auswanderern klar, dass es
sich hierbei um den entscheidenden Abschnitt ihre Auswanderung handelte. Die Abgeschlos-
senheit des Schiffes unterstützte solche Gedanken, denn einen sofortigen Weg zurück gab es
nicht. Das Zusammenwirken von verschiedenen Gefühlszuständen und die Besonderheit der
Situation ließen die Auswanderinnen und Auswanderer die Überfahrt als besonders erfahren
und das Schiff zu einem Ort voller Erinnerungen werden.
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 1/2015
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 1/2015
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 216
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal