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140 Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Anja Fuchs und Robin Klengel | “There are no cats in America”
Den Schilderungen gemein ist das Motiv der geteilten Erfahrungen, der geteilte Raum,
die geteilte Richtung vor deren hintergrund bisher geltende soziale Verordnungen wenn nicht
ganz hinfällig, so doch in jedem fall eine andere Gewichtung einnehmen. Turner verwendet
den Begriff der „communitas“ um eine Gesellschaft zu beschreiben die nur rudimentär struk-
turiert oder gar unstrukturiert ist und im Kontrast zu strukturierten Gesellschaften stehen,
welche sich dadurch auszeichnen, dass sie hierarchisch geordnet sind und Individuum politisch,
wirtschaftlich und rechtlich verorten (1989:112ff.). Turner argumentiert, dass die communitas
im Schwellenzustand impliziert ist und sich nur immer nur in Bezug zur sonst gültigen Sozial-
struktur begreifen lässt (ebd.: 126).
communitas und Schwellenzustand hinterfragen, reflektieren, kritisieren herrschende sozi-
ale Ordnungen und können infolge auch stabilisieren – auf jeden fall jedoch stellen sie einen
Möglichkeitsraum dar, ein Raum der überleitet, ein Raum der Transformationen einleitet oder
diese gar bedingt. Das Schiff als einen solchen Raum der Möglichkeiten zu betrachten und die
Migrant-innen darauf als liminale Schwellenwesen oder kollektiv als „communitas“ zu sehen,
kann hier eine wertvolle Perspektive auf das „Dazwischen“ im Migrationsprozess bieten.
Das Ende der Schwellenphase ist nach Turner die Wiedereingliederung in einen, vielleicht
veränderten, gesellschaftlichen Normalzustand. Die Schwellenwesen bekommen eine neue
Identität und wieder einen Platz in der gesellschaftlichen hierarchie. Die damit verbundenen
bürokratischen Rituale, die im falle der Einwanderung mitunter mit dem Erhalt eines neuen
Namens einhergehen können, symbolisieren diesen Übertritt. Dies markiert vielleicht auch das
Ende dieser zeitlich begrenzten communitas-Erfahrung an Bord.
Das Schiff als Reservoir für die Phantasie
Sowohl in den visuellen Repräsentationen, als auch in vielen Lebensgeschichten wird der Raum
des Schiffes während der Überfahrt häufig als ein Raum im Dazwischen beschrieben. Diese
Passage ist von sehr speziellen Umständen begleitet, die diesem Abschnitt einen Sonderstatus
im Migrationsprozess verleihen: während der Schiffsüberfahrt ist man gewissermaßen in einem
außerordentlichen Zustand. Michel foucault erdachte mit seinem vielbesprochenen Begriff der
heterotopie ein Raumkonzept, mit dem wir vielleicht nachvollziehen können, wieso die Zeit
auf dem Schiff diese Sonderstellung einnimmt. In seinem Text „Von anderen Räumen“ aus dem
Jahr 1967 stellt foucault Utopien und heterotopien gegenüber. Beide sind dadurch gekenn-
zeichnet, dass sie „in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten stehen“
(foucault 2006:320). heterotopien haben jedoch, im Unterschied zu Utopien, real existierende
Örtlichkeiten und lassen sich räumlich-physisch erfassen. Gleichzeitig sind es aber „Orte, die
außerhalb aller Orte liegen“ (ebd.). heterotopien sind eben nicht Teil der „normalen“ Räume
einer Kultur, sondern hiervon abgetrennte Sphären, in denen quasi eine außerordentliche Ord-
nung herrscht.
In besonderer Weise geht foucault auf den Raum des Schiffes ein:
„Wenn man bedenkt, dass Schiffe letztendlich ein Stück schwimmenden Raumes sind,
Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem end-
losen Meer ausgeliefert, die von hafen zu hafen, von Wache zu Wache, von freudenhaus
zu freudenhaus bis in die Kolonien fahren, um das Kostbarste zu holen, was die Gärten
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 1/2015
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 1/2015
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 216
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal