Seite - 141 - in Mobile Culture Studies - The Journal, Band 1/2015
Bild der Seite - 141 -
Text der Seite - 141 -
Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Anja Fuchs und Robin Klengel | “There are no cats in America” 141
dort zu bieten haben, dann werden Sie verstehen, warum das Schiff für unsere Zivilisation
vom 16. Jahrhundert bis heute nicht nur das wichtigste Instrument zur wirtschaftlichen
Entwicklung gewesen ist […], sondern auch das größte Reservoir für die Phantasie. Das
Schiff ist die heterotopie par excellence.“ (ebd.: 327)
Was heißt das nun, angewandt auf unser Beispiel der Schiffsüberfahrt? Können wir das Schiff
als heterotopen Raum begreifen?
für das Schiff von besonderer Relevanz sind foucaults vierter und fünfter Grundsatz zur
heterotopie. Der vierte Grundsatz besagt, dass heterotopien oftmals mit zeitlichen Brüchen in
Verbindung stehen (ebd.: 324). Eine solche Rhythmusänderung, wie mit dem An- bzw. Von-
Bord-gehen einher geht, wird sowohl in „An American Tail“, als auch in „Ein neues Land“
anschaulich illustriert: Einmal ist es die Mäusefamilie, die nach einer hektischen flucht aus
Russland, zusammengekauert im Schiffsbauch die Überfahrt abwartet, während der junge fie-
vel vor Ungeduld faxen macht. Ein anderes Mal ist es der träumerische Blick in die Wolken, der
eine ungewohnte zeitliche Weite vermittelt. Im fünften Grundsatz, „heterotopien setzen stets
ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie isoliert und zugleich den Zugang zu
ihnen ermöglicht“ (ebd.: 325) formuliert foucault ein Kriterium, das anhand des Schiffs viel-
leicht deutlicher ausgeprägt ist, als bei allen anderen heterotopen Räumen und das gleichsam
eine Überschneidung zum Konzept der Liminalität darstellt. Auch dort ist das Überschreiten
der Schwelle zur Sphäre der Andersartigkeit reguliert und von rituellen handlungen begleitet.
Vor allem beim von Bord gehen sind diese das „System der Öffnung und Schließung“ beglei-
tenden Symboliken in die populäre Bildsprache eingesickert. So bildet etwa der erste Blick auf
das „neue“ Land und den hafen der Ankunft, der seinerseits versehen ist mit semantisch auf-
geladenen figuren, ein symbolisches Bild, das im Rahmen einer Migrationsgeschichte oftmals
reproduziert wird. Die rituellen handlungen der Ankunft, die Kontrollen und bürokratische
Prozeduren – besonders natürlich die Namensgebung – sind ebenfalls fester Bestandteil der
symbolischen Wiederangliederung.
Vor allem ist es jedoch jener Aspekt in foucaults Beschreibung, in dem er das Schiff als
ein „Reservior für die Phantasie“ darstellt, der die Andersartigkeit der heterotopie des Schiffes
nachvollziehbar macht. hier ist auch die Nähe zur Utopie spürbar: durch ihre Sonderform
ermöglicht die heterotopie, über bestehende Ordnungen zu reflektieren und zu phantasieren.
Vielleicht macht es Sinn, diese die Imagination fördernde funktion ist in Bezug zu setzen
mit der sehr speziellen Bewegungspraxis auf dem Schiff. Als Transitmedium bewegt es sich
kontinuierlich vorwärts, Wolken und Wellen ziehen vorbei, jedoch kaum konkrete Bezugs-
punkte. Die Passagier-innen sind trotz dieser Bewegung, die das Medium vollzieht, selbst nicht
in Bewegung. Und auch das Schiff selbst wirkt als statischer Raum, selbst wenn die Umgebung
des Schiffes, Meer und himmel, beständig die form verändern. Ein unaufhörliches Schaukeln
erinnert den Körper an den fluiden Untergrund und löst mitunter Seekrankheit aus. Man
bewegt sich also durch den Raum, ohne sich selbst bewegen zu müssen, und ohne an der
Landschaft ablesen zu können, wohin es geht. Vielleicht erzeugt das Schiff durch diese spe-
zielle Bewegungsform, durch seine totale Abgeschlossenheit während der fahrt oder durch
den Umstand, zwar auf etwas zuzusteuern – quasi ins Blaue hinein – aber eben noch nicht da
zu sein, wirklich eine Sphäre, die die Phantasie anregt. Wenn der Blick über die Wellen oder
hinauf zu den Wolken gleitet, so sind Zukunft und Vergangenheit gleichsam weit entfernt; in
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 1/2015
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 1/2015
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 216
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal