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148 Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
David Jünger | Die Schiffspassage deutscher Juden nach Palästina
Reise nach Palästina
Am 13. März 1937 verließen die Eheleute Gertrud und Willy cohn ihre heimatstadt Breslau
und begaben sich auf eine mehrwöchige Urlaubsreise zu ihren Söhnen Wolfgang und Ernst.
Der älteste Sohn Wolfgang hatte Breslau Ende April 1933 kurz vor seinem 18. Geburtstag ver-
lassen, um in Paris zu studieren. Der jüngere Sohn Ernst besuchte zunächst ein zionistisches
hachschara-Lager, bevor er im März 1935 im Alter von 15 Jahren nach Palästina emigrierte, wo
er im Kibbuz Givat Brenner lebte. Nach ihrer Abreise aus Breslau fuhren Willy und Gertrud
cohn zunächst nach Paris, wo sie einige Tage bei Wolfgang verweilten. Von Paris führte sie die
Reise weiter nach Marseille. In der französischen hafenstadt schifften sie sich schließlich am
18. März auf die Marietta Pascha mit dem Ziel Palästina ein. Vor ihnen lagen nun sieben aufre-
gende Wochen auf dem Schiff und im Land, bevor sie am 8. Mai 1937 nach Breslau zurückkeh-
ren sollten. Von den Stationen, Ereignissen und Erlebnissen der Reise berichtete Willy cohn
in seinem Tagebuch, das als eines der wichtigsten jüdischen Selbstzeugnisse aus der Zeit des
Nationalsozialismus gelten kann.1
Die Wochen, die der Reise vorausgingen, waren von Vorfreude geprägt, der jedoch immer
auch die Angst eingeschrieben war, dass die Reise doch noch scheitern könnte. Am 11. februar
1937 notierte cohn: „Vor einer so großen Reise sind unendlich viel Einzelheiten und formalitä-
ten zu erledigen; Visa, Devisengenehmigungen, und wenn das auch alles das Reisebüro cohn
erledigt, so muß man doch dahinter sein, um alles zusammenzuhaben; denn wehe, wenn heute
irgend ein Stempel fehlt an irgendeiner Grenze; aber es macht doch auch freude, diese Vorbe-
reitungen treffen zu dürfen, und man hofft, daß nun alles glatt gehen wird.“2 Doch bereits eine
Woche später tauchten neue Probleme auf, es gäbe „inzwischen wieder große Schwierigkeiten
mit der Beschaffung des palästinensischen Visums!“ 3
Doch auch diese nicht näher benannten Schwierigkeiten sollten schließlich aus dem Weg
geräumt werden. cohns gelangen sowohl die Beschaffung der Papiere als auch die Regelung der
Devisenangelegenheiten. für die Zeit der Reise war das Ehepaar zum ersten Mal seit langem der
Enge des nationalsozialistischen Deutschlands entkommen. In den Monaten und Jahren zuvor
hatte Willy cohn mit Depressionen und einer immerwährend angeschlagenen Gesundheit
zu kämpfen gehabt. Nun fühlte er sich jedoch befreit und euphorisiert. Schon nach wenigen
Tagen auf dem Schiff notierte er in sein Tagebuch: „In mir ist es voll von feierlichen Gefühlen
auf dieser Reise, so eine Stimmung wie sie Walther von der Vogelweide in seinem Glauben im
Kreuzzugslied ausgedrückt hat. […] Es ist doch der Traum des Lebens, der in Erfüllung geht.“ 4
Die Reise der cohns mutet aus heutiger Perspektive seltsam an: ein jüdisches Ehepaar,
das im Jahr 1937 von Deutschland aus auf eine Urlaubsreise nach frankreich und Palästina
geht, um wenige Wochen später in den nationalsozialistischen Terrorstaat zurückzukehren.
Und doch handelt es sich hierbei durchaus um keinen Einzelfall, sondern um ein verbreite-
tes Phänomen. Derartige Reiseaktivitäten deutscher Juden sind vermehrt seit dem Beginn der
1 für diese und folgende Ausführungen: cohn, Willy. 2006. Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des
Breslauer Judentums 1933–1941, Band 1, herausgegeben von Norbert conrads (Köln/Weimar/Wien: Böhlau).
2 Eintrag vom 11. februar 1937, in: ebd., S. 379 f.
3 Eintrag vom 19. februar 1937, in: ebd., 381.
4 Eintrag vom 22. März 1937, in: ebd., 388.
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 1/2015
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 1/2015
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 216
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal