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156 Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
David Jünger | Die Schiffspassage deutscher Juden nach Palästina
Untergang des Alten Europas, seiner politischen Kultur des Liberalismus, des Individualismus
und seines heilsversprechen der Emanzipation, das einzulösen es nicht imstande war. Palästina
hingegen stand für das Neue, das aus den ‚Trümmern des Individualismus’ hervorgegangene
Gegenmodell: Das Versprechen auf Erlösung des Kollektivs statt Erlösung des Einzelnen.
In dieser Gegenüberstellung konnte die Aussicht auf den Zukunftsort, auf die Vision Palä-
stina durchaus Emphase auslösen. Aber war Palästina zunächst nicht doch nur ein geographi-
scher Ort bestehend aus Wüsten, Sümpfen und allgemeiner Rückständigkeit? Würde das Allge-
meine, die Vision Palästina, ausreichen um das Besondere des kargen Alltags zu überschreiben?
Diese Ängste waren auf der Schiffspassage allgegenwärtig und beeinflussten die Erwartungen
auf das Neue Palästina. In den Begriffen des Alten Europas und Neuen Palästinas waren die
unterschiedlichen zeitlichen Konfigurationen bereits in die räumlichen eingeschrieben. Palä-
stina war eben kein klassischer Ort des Exils. Palästina war nicht nur jüdische Zukunft, es war
auch und vor allem jüdische Vergangenheit. Mehr noch: Jüdische Zukunft sollte die Wieder-
belebung und Transformation jüdischer Vergangenheit sein: die Einheit von Nation, Religion,
Territorium und Staat.
für die jüdischen Passagiere auf dem Schiff nach Palästina waren jene ineinander greifen-
den räumlichen und zeitlichen Konstellationen Ausgangspunkte tiefgreifender Überlegungen
über ihren je eigenen Platz im Prozess des Übergangs. Sie richteten den Blick zurück in die
eigene Vergangenheit, die bereits so fern schien, dachten nach über die Gegenwart, die ihnen zu
entgleiten drohte und versuchten die Zukunft zu antizipieren, die ihnen so groß aber unwirk-
lich erschien. Und sie verbanden diese Überlegungen mit der Geschichte des jüdischen Volkes
und ihrem eigenen Verhältnis dazu. Was hatte das Vergangene, das Alte Europa, Deutschland
den Juden gegeben und was hat es ihnen genommen? Was würde die Zukunft bringen, für sie
selbst, für das Judentum, für die Menschheit?
Die deutschsprachige israelische Schriftstellerin Jenny Aloni wuchs als Jenny Rosenbaum
in Paderborn auf, lebte von 1935 bis 1936 im hachschara-Lager Gut Winkel, von 1936 bis 1939
in Berlin und konnte Ende 1939 nach Palästina emigrieren. Ihre Erlebnisse hielt sie in einem
Tagebuch fest, das posthum veröffentlicht wurde.33 Im November 1939 erreichte sie die italieni-
sche hafenstadt Triest, von wo aus sie nach Palästina übersetzen sollte. In ihrem letzten Tage-
bucheintrag vor der Abreise schrieb sie: „Ich werde nicht viel dazu kommen Aufzeichnungen zu
machen. Die Kinder nehmen meine ganze Kraft in Anspruch. Daran zu denken dass man auf
der Brücke zwischen zwei Ländern steht, dazu bleibt kein Raum.“ 34 Auch wenn sie selbst also
keine Aufzeichnungen vom Schiff hinterließ, verarbeitete sie die Erfahrungen der Reise und der
Ankunft später in dem autobiographischen
Roman Zypressen zerbrechen nicht.35 Der Roman schildert die Emigration der jungen
helga – die ihren Namen noch auf dem Schiff in hagar ändert – nach Palästina und beginnt
mit der Schiffspassage und den Reflexionen darüber, wofür im Tagebuch kein Raum war: über
das Schiff als Brücke zwischen zwei Ländern, zwei Räumen, zwei Zeiten. Die ersten Szenen
spielen auf dem Deck des Schiffs, das sich Kreta nähert. Ein fremder, pfeifenrauchender Mann
33 Aloni, Jenny. 2006. „Ich muss mir diese Zeit von der Seele schreiben“. Die Tagebücher 1935–1993: Deutschland
– Palästina – Israel, hrsg. v. hartmut Steinecke (Paderborn/München/Wien/Zürich: ferdinand Schöningh).
34 Ebd., 159.
35 Aloni, Jenny. 1961. Zypressen zerbrechen nicht. Roman (Witten/Berlin: Eckart Verlag). Ich danke Joachim
Schlör für den hinweis auf den Roman.
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 1/2015
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 1/2015
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 216
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal