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Mobile Culture Studies.The Journal 1 2o15
David Jünger | Die Schiffspassage deutscher Juden nach Palästina 157
zeigt auf die Insel und sagt zu helga: „Das ist das Ende von Europa. Gott sei Dank, daß es zu
Ende ist. […] Europa ist vorbei, abgetan und erledigt. […] In vier Tagen sind wir in unserem
Land.“ 36 helga lauscht den Worten des Mannes, die ihr jedoch seltsam erscheinen: „Wie konnte
sie sagen, Europa sei abgetan und erledigt, wenn es noch in ihr saß, wenn sie selber nichts war
als Europa? […] Wie begann man ein neues Kapitel, wenn das alte noch nicht abgeschlossen
war, vielleicht niemals abgeschlossen werden konnte?“37 helga spürte, dass ihre eigene Existenz
sich aus diesem Alten Europa zusammensetzte und dass Palästina, von dessen Besiedlung die
Zionisten als einer Rückkehr sprachen, ihr nichts sagte. Der Pfeifenraucher sprach von „unse-
rem Land“, das in vier Tagen erreicht sei. helga hingegen zweifelte: „Unser Land, unser Land,
hallte es in helga nach. Sie versuchte sich dabei etwas vorzustellen, etwas zu empfinden. Sie
hatte darüber gelesen und erzählen gehört. Sie hatte begonnen, die Sprache zu lernen, sogar
gute fortschritte in ihr gemacht. Aber es gelang ihr nicht, sich dabei etwas vorzustellen. Sie
vermochte nichts dabei zu empfinden.“ 38
Während helga zweifelte, waren viele andere Reisende tief ergriffen von der faszination des
heiligen Landes. In verschiedenen Selbstzeugnissen spiegelt sich diese Ergriffenheit im Pathos
von ‚heimkehr‘ und ‚Erlösung‘. Paul Mühsam verließ 1933 Deutschland, um nach Palästina zu
emigrieren. In sein Tagebuch notierte er am 19. September des Jahres: „Gegen 4 Uhr Ankunft
in haifa. … Eine neue Welt tut sich auf. Orient. Ich sehe alles wie im Traum, wie ein Nacht-
wandler. … haifa ist eine werdende Stadt, wie Palästina ein werdendes Land.“ 39 In seinen spä-
ter angefertigten Erinnerungen hat Mühsam den Moment der Landung in haifa noch einmal
mit Pathos angereichert:
„Eine neue Welt tat sich vor uns auf. Von der Ungewohntheit und Buntheit der Bilder über-
wältigt, die sich vor uns entrollten, sah ich alles wie im Traum und ging wie ein Nachtwan-
dler umher. Wir waren am Ziel. Palästina, du legendenumwobenes, einzigartiges Land, den
meisten Völkern auf Erden heilig, aus der Urgeschichte der Menschheit geheimnisvoll in
die Gegenwart ragend, wir standen auf deinem von unendlich viel Blut aus zahllosen Krie-
gen und Verfolgungen getränkten und dennoch geweihten Boden. Seit das Reich zerfiel,
von dem aus Gott seinen Einzug in die herzen der Menschen hielt, sind Tausende frommer
Juden zu dir gepilgert, um auf den Trümmern deiner vergangenen herrlichkeit zu sterben,
in deiner geheiligten Erde begraben zu werden. Wir aber waren gekommen, um zu leben.
Und nun umgabst du uns, du wunderlich buntes Land, wo man noch jetzt die Bibel erlebt,
wo man allenthalben auf ehrwürdige Stätten stößt, wo man noch heute wie vor dreitausend
Jahren Rahel zum Brunnen gehen sieht, um Wasser zu schöpfen und mit dem Krug auf
dem Kopf in rhythmischen Gang über feld heimwärts zu schreiten. Wir hatten zurück-
gefunden zu dir, du Land unserer Väter, und wir legten wandermüde unser haupt mit all
unserem hoffen in deinen Schoß.“ 40
36 Ebd., 7–9.
37 Ebd., 8.
38 Ebd., 9.
39 Mühsam, Paul. 1978. Mein Weg zu mir. Aus Tagebüchern, hrsg. u. komm. v. Else Levi-Mühsam, Geleitwort v.
Werner Volke (Konstanz: Rosgarten Verlag), 171.
40 Mühsam, Paul. 1989. Ich bin ein Mensch gewesen. Lebenserinnerungen (Berlin: Union Verlag), 255.
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 1/2015
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 1/2015
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 216
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal