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Erzwungene Bewegungen und neue
Ankerplätze
Editorial
Johanna Rolshoven und Joachim Schlör
Mobile Culture Studies. The Journal, Vol. 2 2016, 7-10
Editorial
Open Access: content is licensed under CC BY 3.0
Menschen, die fliehen müssen, beschaffen sich Atlanten und Landkarten, und wenn sie zu
arm dafür sind, schwer überprüfbare Informationen über Schlepper und Routen. Sie suchen
Wege, die aus den Heimatländern der Verfolgung und des Elends hinausführen. Sie beantragen
Visa und bemühen sich um Einladungen in andere Staaten. Sie versuchen, vorhandene Netz-
werke von Kontakten und Informationen zu nutzen oder neue aufzubauen. Sie studieren die
Lebensbedingungen in anderen Weltteilen, vom Klima über die Siedlungsmöglichkeiten bis
hin zu »job opportunities«. Die Orte – Städte, Regionen, auch ganze Staaten – der imaginären
Geografie ihrer Ziele sind immer auch Punkte in einem weiten Netzwerk transnationaler und
transozeanischer Erfahrung. Was die Journalistin Inge Deutschkron in ihren Erinnerungen an
die deutsch-jüdische Emigration der 1930er Jahre beschreibt, ließe sich mit gezielten Auslassun-
gen auf heutige Zwangsmobilitäten übertragen:
„[Sie] begannen endlich die Wirklichkeit zu begreifen. Sie eilten von Konsulat zu Konsulat,
standen oft Stunden lang in der Schlange der Wartenden, um sich über mögliche Ein-
reisebedingungen zu informieren. Dabei mussten sie feststellen, dass die meisten Länder
unerfüllbare Bedingungen stellten. Verwandte ersten Grades als Bürgen, hohe Geldsum-
men als Garantie, damit der Einwanderer dem jeweiligen Staat nicht zur Last fiele. Sie
begründeten dies mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten. [...] Es war in der Tat wie ein
Gesellschaftsspiel, das niemals endete, wenn sie verzweifelt vor einer Weltkarte saßen und
mit den Fingern ein Land suchten, das sie einlassen würde. [D]ie wenigsten wussten etwas
über diese Orte und ihre Bedingungen. „Hast Du schon Neuseeland probiert?“ „Was ist mit
Paraguay?“ „10.000 Mark soll ein Visum nach Venezuela kosten?“, so fragten sie einander
aus. Nur einer hatte Positives zu vermelden. Der Staat Kolumbien war bereit, Menschen
mit landwirtschaftlichen Kenntnissen aufzunehmen. Für [Großstädter] schien dies wenig
attraktiv. Und doch erhielten einige die Einreise: sie hatten sich als Gärtner ausgegeben.“1
Die Aktualität der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkt fort bis ins frühe 21. Jahrhundert.
Aber wo stehen wir heute? Die Vehemenz, mit der die Kriegs- und Fluchtereignisse im Mittle-
ren Osten und Afrika 2015 nach Europa ausstrahlen, stösst Auseinandersetzungen an, die die
Gesellschaft und die Gesellschaftswissenschaften herausfordern. Diesem Thema ist die zweite
1 Inge Deutschkron, Wir entkamen. Berliner Juden im Untergrund. Beiträge zum Widerstand 1933-1945 (Berlin 2007:
Gedenkstätte Deutscher Widerstand), p. 22.
Mobile Culture Studies
The Journal, Band 2/2016
- Titel
- Mobile Culture Studies
- Untertitel
- The Journal
- Band
- 2/2016
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 168
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal