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Mobile Culture Studies. The Journal 6 2o20 (Travel)
de Almeida, Müller, Wimplinger | Die Linke schaut nach Portugal 73
und Michel Lequene in ihrem 1976 erschienenen Film Setúbal, ville rouge (FR 1976, R.:
Daniel Edinger/Michel Lequenne) mit den Versuchen einer proletarischen Selbstverwaltung
von Betrieben im Herbst 1975 in der Stadt Setúbal — noch heute eine Hochburg der portu-
giesischen kommunistischen Partei PCP. Der Film lässt sich im Gegensatz zu Debords ästhe-
tisch-elaboriertem Found-Footage-Bildersturm in einem klassischen Modus des politischen
oder militanten Kinos betrachten. Die von dem Dokumentarfilmtheoretiker Bill Nichols
beschriebenen dokumentarischen Modelle des „participatory mode“ (Nichols 2017: 137) wie
„observational mode“ (Nichols 2017: 132) werden hier in gefilmten Gewerkschaftstreffen
umgesetzt, die Diskussionen innerhalb der Belegschaften angeeigneter Betriebe zeigen. Die
Arbeiter*innen beschließen, Kühlschränke anstatt Automobile zu produzieren. Doch die beob-
achtende Distanz lässt immer wieder eine solidarische Haltung der Filmemacher durchblicken,
die sie gegenüber der proletarischen Selbstverwaltung einnehmen und die sie auch außerhalb
Portugals zu vermitteln versuchen. Die Grenzen zwischen Partizipation und Repräsentation
von Filmmacher*innen wie bei Zuseher*innen verschwimmen im politisch-engagierten Kino,
das sich insbesondere in den 1970ern in Mitteleuropa darauf konzentrierte, Strukturen einer
Gegenöffentlichkeit zu schaffen.23
1978 erschien ein weiterer Film mit Außenblick auf die Geschehnisse in Portugal. Der US-
amerikanische Filmemacher Robert Kramer, welcher schon seit den späten 1960ern als Mitbe-
gründer der linken Filmgruppe Newsreel einige Filme zu politischen Kämpfen in und außerhalb
der USA gedreht hatte, reiste zwischen 1975 und 1977 mehrfach nach Portugal und dokumen-
tierte eine Vielzahl von Veränderungen im Land. Der in Zusammenarbeit mit Philip Spinelli
entstandene Film Scenes from the Class Struggle in Portugal (US 1978, R.: Robert Kramer/Philip
Spinelli) nimmt seinen Ausgangspunkt in der Rückkehr Kramers nach San Francisco 1978.
Die Gruppe Newsreel wurde im Dezember 1967 zur Agitation der Neuen Linken in den
USA gegründet und wirkte nicht nur als Produzentin von politischen Dokumentarfilmen, son-
dern schuf auch ein Netzwerk zur Distribution und Vorführung von Filmen in den USA (vgl.
Roth 1982: 92). Der politisch-engagierte Film bedeutet für Kramer, „that a film could try to
contain the same energy that was in the events themselves“ (Brom 1976: 29–30). Thematisch
unterstützte die Gruppe nicht nur die Student*innenbewegung und den afro-amerikanischen
Kampf gegen Rassismus, sondern trat insbesondere auch für eine Dekolonialisierung Latein-
amerikas und Afrikas ein. So adressiert Scenes from the Class Struggle in Portugal eben-
falls den Portugiesischen Kolonialkrieg als einen Auslöser der Revolution. Anstelle einer beob-
achtenden Untersuchung der Veränderungen Portugals ist der Film eine Reflexion über den
unternommenen Versuch, sich durch Filmemachen solidarisch zu verhalten, und über die das
Filmen begleitende Herausforderung, den prozessualen Charakter eines revolutionären Ereig-
nisses medial darzustellen und festzuhalten. Mittels Archivmaterialien, selbstgedrehter Szenen
politischer Ereignisse, Interviews, reflexiver Bild-Collagen und Zwischentitel argumentiert der
Film in vergleichbarer Weise wie die zuvor erwähnten Wissenstableaus auf mehreren zeitlichen
Ebenen (vgl. Schefer 2013). Durch dieses zeitlich diskontinuierliche Ensemble heterogener
23 Theoretische Ansätze zur Gegenöffentlichkeit lassen sich in Enzensbergers (1976) Baukasten zu einer Theorie
der Medien: Kritische Diskurse zur Pressefreiheit sowie in Negt und Kluges (1972) Öffentlichkeit und Erfah-
rung: Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarische Öffentlichkeit (Frankfurt a. M., Suhrkamp)
finden. Für den Medienaktivismus der 1970er in Deutschland spielen diese Werke eine entscheidende Rolle. Zur
Idee des Films als Gegenprodukt siehe Weber 2015: 13–24.
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Mobile Culture Studies, Band 2/2020
The Journal
- Titel
- >mcs_lab>
- Untertitel
- Mobile Culture Studies
- Band
- 2/2020
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 270
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal