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Mobile Culture Studies. The Journal 6 2o20 (Travel)
de Almeida, Müller, Wimplinger | Die Linke schaut nach Portugal 81
finden, ist Harlan viel eher an den Umbruchsmomenten des revolutionären Prozesses selbst
interessiert. Was passiert mikropolitisch in einer revolutionären Situation und welche Wider-
sprüche oder Konflikte treten auf? Torre Bela ist auf filmischer Ebene und im Hinblick auf ein
zu erreichendes Agitationsziel des Films nicht nur weniger solidarisch (man bedenke Harlans
Kommentar zur Manipulation) oder argumentativ wie Viva Portugal!, führt jedoch ein ganz
anderes Verständnis von filmischem Realismus als Dokument ein.34 Durch die Teilnahme,
Manipulation oder Intervention des Filmteams wurde nicht nur ein Film gedreht, sondern
gleichzeitig eine Art von eigener Realität geschaffen. Anstatt ein politisches Ereignis nur zu
dokumentieren, wurde der Film selbst zu einem Ereignis des revolutionären Prozesses.
Die Unterschiede in den dokumentarischen Praktiken der beiden Filme sind für die Identi-
fizierung eines deutschen Außenblicks auf Portugal nicht unerheblich. Die Analysen von Viva
Portugal! sind argumentativ und versuchen durch eine ausgiebige Recherche in Buch und Film
eine Perspektive auf die Anwendbarkeit der Geschehnisse in Portugal im Sinne einer eigenen
zu entwickelnden politischen Praxis zu entwerfen. Er ist kein Ereignis, sondern Erkenntnis-
medium und Vehikel zur Meinungsbildung. So könnte man zwei Formen eines deutschen
filmischen Blicks auf die Nelkenrevolution identifizieren. Einerseits ein Interesse am politi-
schen Ereignis als Intensität und dessen mediale Verfasstheit, andererseits die Betrachtung des
politischen Ereignisses in Form einer Studie, einer Recherche in Bezug auf einen linken Diskurs
innerhalb der BRD. Für die portugiesische Geschichtsschreibung der Revolution konnte Torre
Bela wohl auch daher eine größere Bedeutung erlangen, während Viva Portugal! zunächst
innerhalb Portugals eher eine Randnotiz blieb. Der Film erlangte zu Beginn der 2010er Jahre
wieder Anerkennung, nachdem für die Publikations-Serie Bibliothek des Widerstands im
Laika-Verlag 2012 eine digitale Restaurierung angefertigt wurde.35
Fazit
Gesellschaftstheorien, wie sie im Anschluss an die Philosophie Karl Marx’ im 20. Jahrhundert
entstanden sind, gelangen fast zwangsläufig an einen Punkt, der vom Schreibtisch aus nicht
mehr einzuholen ist, weshalb sich die frühantike Reisepraxis des theoros wieder in den Vorder-
grund schiebt. Theoretiker*innen reisen an den Ort des gesellschaftlichen Umbruchs, um am
Modell der Wirklichkeit ihre Beobachtungen zu machen, an den politischen Prozessen teilzuha-
ben und ihre Erwartungen einzulösen. Verdächtigen Intellektuelle die bürgerliche Öffentlich-
keit einer kapitalistischen Parteinahme und verzerrenden Berichterstattung, tauschen sie den
Schreibtisch gegen den Notizblock ein. Die produktive Reisetätigkeit vieler westeuropäischer
Linker war von einer heute teilweise schwer vorstellbaren Euphorie und Überzeugung geprägt,
die sich auch den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1968 verdanken. Dass 1974 in einem euro-
päischen Land eine linksgerichtete Revolution stattfand, schien für viele Westeuropäer*innen
als eine zu überprüfende Unwahrscheinlichkeit, die man miterleben wollte.
34 Andererseits ließe sich argumentieren, dass Torre Bela durch seine Teilhabe an der Situation trotz der Manipu-
lationen solidarisch ist, da hier abseits einer filmischen Repräsentation der Kooperative auch geholfen wurde.
35 Nachdem die 16mm-Kopien der französischen und portugiesischen Fassung des Films zunächst als verschollen
galten, 2016 dann aber doch eine portugiesische Fassung im Filmarchiv des deutschen Filminstituts DIF auf-
tauchte, konnte der Film im April 2017 erstmals wieder in Portugal, auch an ehemaligen Drehorten, gezeigt
werden, wie uns Malte Rauch in einer E-Mail vom 20. Juli 2020 mitteilte.
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Mobile Culture Studies, Band 2/2020
The Journal
- Titel
- >mcs_lab>
- Untertitel
- Mobile Culture Studies
- Band
- 2/2020
- Herausgeber
- Karl Franzens University Graz
- Ort
- Graz
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch, englisch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 270
- Kategorien
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal