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© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 9783847111658 – ISBN E-Lib: 9783737011655
Vollbürger,wesentlichdeutlicheralsderFremdevom„Ausländer,derauseinem
fernenLandkommt“ (29,21)abgegrenzt:politischbeider Inthronisationeines
Königs (17,15),ökonomischbeimSchuldenerlass (15,3)undbeimZinsnehmen
(23,21), wo die internationalüblichenHandelsbedingungen gelten. DieseDif-
ferenzen bedeuten keinen Konflikt, es herrscht keinerlei Ausländerfeindlich-
keit.28
Nachdieser Skizze des deuteronomischen Sprachgebrauchs kehrenwir zu-
rückzuunseremText. In10,18 fällt auf,dassderFremdezwar inunmittelbarer
NachbarschaftzuWaiseundWitwegenannt,mit ihnenabernichtzurTriasder
klassischen marginalen Gesellschaftsgruppen zusammengeschlossen wird.29
WeilderFremdeerstan letzterStelleangeführtwird,handeltessichnochnicht
umdiedeuteronomischeFormel „Fremde,WaiseundWitwe“.30Sie findet sich
beim Informationsaufbau imLesegefälle desBuches erst inder Sammlungder
Einzelgesetze (14,29; 16,11.14; 24,[17].19.20.21; 26,12.13; ferner 27,19).31Den
Hintergrundvon10,18bildeteinefürdenAltenOrienttypischeKrisensituation.
Frauen,die ihrenMannverlorenhattenundalleinaufsichselbstgestelltwaren,
hatten keinenRechtsbeistand.Waren ihreKinder noch versorgungsbedürftig,
dannwaren auch diese in der Gesellschaft besonders gefährdet – ihre Rechte
wurden oft nicht respektiert (vgl. 24,17 und 27,19). Anders als Witwen und
Waisenwird der Fremde in 10,18 nicht in denBlick genommen,weil er nicht
rechtsfähig, sondernweil ermittellos ist. Denn „Brot“ und „Mantel“, dieGott
ihmgewährt, stellendasLebensnotwendigedar (vgl. Jes 3,7; 4,1).DieseUnter-
scheidung innerhalb der sozialen Randgestalten bedeutet zugleich: Die Liebe
JHWHsbeziehtsichinDtn10,18nuraufdenFremden.SieistimAltenTestament
einzigartig.Ebensoeinmalig istes,dassderFremdein10,19dasausschließliche
28 „Dernokr% ist der ganz andere, der sich vom ,Du‘ unterscheidet. Seine Stellungunterliegt
deshalbnichtdenpositivenPrivilegieninnerhalbdersolidarischenBrüdergemeinschaft,sie
ist aberauchnichtnegativkonnotiert.“ (Ebach,Fremde,S. 66).
29 Vgl.Ram&rezKidd,Alterity, S. 82.
30 DerDoppelausdruck„WaiseundWitwe“steht imDeuteronomiumniemalsallein, sondern
fordertvorsichden„Fremden“.DagegenistdasWort„Fremder“nichtnotwendigan„Waise
undWitwe“gebunden.
31 DieBelegevariierenallerdings,weilz.B.in16,14und26,12dieLevitenmitdemFremden,der
WaiseundderWitwezueinerTetradezusammengeschlossenwerden.EineÜbersichtbietet
Awabdi, Immigrants,S. 117–119.DurchdieKonstruktioneinerGesellschaftohneArmehat
dasDeuteronomiumdemFremden,derWaiseundderWitweeinenVersorgungsanspruch
gesichert – s. Norbert Lohfink, Das deuteronomischeGesetz in der Endgestalt – Entwurf
einer Gesellschaft ohne marginale Gruppen, in: Studien zum Deuteronomium und zur
deuteronomistischen Literatur III, Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 20, Stuttgart 1995,
S. 205–218, hier: S. 209–216. Für einen grundlegendenUnterschied zwischen dem altori-
entalischenunddembiblischenEthosplädiertzuletztGeorgBraulik,EineGesellschaftohne
Arme.DasaltorientalischeArmenethosunddiebiblischeVision,in:ToraundFest.Aufsätze
zumDeuteronomium und zur Liturgie, Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 69, Stuttgart
2019, S. 13–30.
DerblindeFleck–dasGebot,denFremdenzu lieben 47
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Menschenrechte und Gerechtigkeit als bleibende Aufgaben
Beiträge aus Religion, Theologie, Ethik, Recht und Wirtschaft
- Titel
- Menschenrechte und Gerechtigkeit als bleibende Aufgaben
- Untertitel
- Beiträge aus Religion, Theologie, Ethik, Recht und Wirtschaft
- Autoren
- Irene Klissenbauer
- Franz Gassner
- Petra Steinmair-Pösel
- Herausgeber
- Peter G. Kirchschläger
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-1165-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 722
- Kategorie
- Recht und Politik